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Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition)

Titel: Es war einmal oder nicht: Afghanische Kinder und ihre Welt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roger Willemsen
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nur an der Tafel, sie lesen sie auch vom Geld ab.«
    Eine Banknote nach der anderen hebt sie hoch. Die Klasse nennt die Summen im Chor. Es herrscht eine Atmosphäre des Ernstes und der Schüchternheit. Aus dem Klassenfenster schweifen die Kinderblicke manchmal in die Weite der grünen Landschaft. Davor aber liegt die Schulmauer, gesäumt von Nato-Draht, dahinter, auf der nächsten Sandkuppe, lagert ein großes Zelt. Eben treiben Nomadenkinder zwei Kühe vorüber. Niemand schaut neidisch.
    Der Geschichtslehrer nimmt heute den Strom durch. Er sagt:
    »In hohen Gebäuden braucht man eine Rolltreppe, betrieben durch Strom. Auch für Licht und Computer benötigen wir Strom. Wir benutzen ihn seit König Habibullah, doch damals gab es nur neunzig Kilowatt in Dschalalabad. Heute ist Strom die wichtigste Energiequelle in Afghanistan. Ein andermal sage ich euch andere Energiequellen. Wer kann jetzt über die Wichtigkeit des Stroms sprechen?«

    Ein Mädchen meldet sich:
    »Im Namen Gottes, Strom ist die wichtigste Energiequelle Afghanistans. Sie existierte schon zu Zeiten König Habibullahs.«
    »Gab es sie für alle?«
    »Nein, nur für den König und seine Berater.«
    »Sag zwei elektronische Geräte!«
    »Rolltreppen und Computer.«
    »Gut. Eure Hausaufgabe: Sagt mir alles über die Bedeutung des Stroms.«
    Immerhin, die meisten in der Klasse verfügen daheim dank der Solaranlagen wirklich über Strom und elektrische Beleuchtung. Selbst ein Wasserkraftwerk existiert in der Gegend. Im Gespräch mit dem jungen Lehrer mit seinem schwarzen Bart meint man noch die Stimmen der Schüler durchzuhören. Er ist ein Idealist und versteht seine Bildungsarbeit als Beitrag zur Zukunft des Landes:
    »Ich bin daran interessiert, dass wir eine gute Regierung bekommen und einen guten Präsidenten.«
    »Und wenn es eine Präsidentin wäre?«
    Er antwortet ohne Zögern: »Warum nicht?«
    Ich bin einen Tag lang von Klasse zu Klasse gezogen, habe den Unterricht in verschiedenen Fächern und Altersstufen verfolgt, die Mädchen gesprochen, die mir ihre Zeichnungen geschickt haben. Nun gehe ich durch ihre Bilder, die neuen aus den letzten Monaten, die älteren, die schon vor Jahren entstanden.
    Blickt man auf die beiden Extreme, so findet man die Zeichnerinnen vor dieser Alternative: Entweder sie machen den Versuch, in ihren Bildern eine Ordnung herzustellen, am besten mit Filzstift und Lineal und so akribisch, als könnten sie das Chaos in Strukturen bannen. Oder aber sie richten auf ihrem Blatt eine Schweinerei an, mit verfließenden Konturen, verzerrten Proportionen, Überschneidungen und Ballungen der Motive. Meistens sind dies die Bilder, auf denen Flugzeuge mit herausfallenden Bomben die Landschaft beschatten, wo Fahnen im Himmel stehen und das Licht rauben, wo Menschen aus dem Haus fliehen. Wo Erschossene zu sehen sind, bei denen die Eingeweide hervorquellen und nur das Herz und die Wunde rot bluten.

    Doch auf so manchem Blatt sind auch alle Dinge gleichzeitig da: Es kommen Flugzeuge durch die Luft, Nomadenzelte lagern in der Ebene, die Sonne passt so eben zwischen die Berggipfel. Es gibt Skizzen drogensüchtiger Eltern neben Studien zum Aussehen der Mohnkapsel, es gibt Folter und Erschießungen, aber die Blumen und die Tiere, das in sich geschlossene Dorf oder die versammelte Familie, sie sind die Rückzugsgebiete des Friedens, des Lebens mit der Natur, der Liebe zur Landschaft. Auch Kinderspiele sind zu sehen, seilspringende Mädchen, ballspielende Jungen. Steifbeinige Tiere grasen auf den Wiesen, und die Familien schließen sich zu Gruppen wie in einem Kokon, geschützt von Mauern oder den Armen des Vaters. Oft sieht man auch Gewehre, die durchgestrichen und von Friedenstauben oder Schreibfedern (für »Bildung«) flankiert werden.
    Manchmal haben die Kinder ihren Illustrationen einzelne Sätze mitgegeben wie: »Die Frau ist unglücklich, dass der Mann drogenabhängig ist, und die Vögel beobachten dies alles.« – »Wasser ist Leben, und dies sollte fließend sein.« – »Wir halten Vieh, wir sind mittellos. Wir passen auf Ziegen, Kühe und Schafe auf und ernten Weizen. Davon leben wir. Wir bekommen das Schreinern, die Arbeit in der Landwirtschaft und das Mähen mit der Sense beigebracht. Wir kaufen von dem Geld alles für den täglichen Bedarf und Schulsachen.«

    Diese Zeichnungen stecken voller Details, wo sie das dörfliche und das häusliche Leben schildern, die Spiele, die Einrichtung der Zimmer, das Tiere-Hüten, das Leben

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