Es wird Tote geben
Vielleicht nicht um alle, musste er sich eingestehen, zumal er die Dokumente eher durchsah wie den Playboy – viel Fließtext ist gleich wenig Aufmerksamkeit. Doch der Fall war kalt wie die Winter hier, Sanders ein Deutscher, und notfalls konnte er immer noch behaupten, dass dieser sie aus seinem Haus gestohlen hatte.
Doch so wenig interessiert Schäfer kurz zuvor noch am Schicksal von Alexander Materna gewesen war – mit jeder Seite, die er umblätterte, nahm ihn der Fall mehr gefangen, bis er sich ab der erneuten Befragung des leiblichen Vaters am 19. 5. 2002 für die folgenden zwei Stunden in die Vergangenheit verabschiedete. Dabei widmete er sich allerdings weniger der Arbeit der Ermittler als vielmehr der Geschichte der Frau, die bald nach seinem Umzug in sein Wahrnehmungsfeld getreten war: Luise Materna, gebürtige Hofmüller, geboren am 7.1.1960 in Sankt Valentin, gelernte Schneiderin, verehelicht am 8.8.1987 mit Leopold Materna, geboren am 4. 12. 1954 in Weitra, Druckereibesitzer. Zwei Kinder, Alexander, geboren 1988, sowie Klara, geboren 1989. Nach der Scheidung der Eltern im Jahr 2000 zog die Tochter auf eigenen Wunsch zu ihrem Vater, während Alexander bei seiner Mutter blieb, zwei Jahre, bis er sich in Luft auflöste.
Ob die Zettel, die sie bestimmt gleich nach dem Verschwinden des Sohnes überall im Bezirk aufgehängt hatten, im Unternehmen des Vaters produziert worden waren? Schäfer verlor sich in einer Szene, in der die verzweifelte Mutter den verzweifelten ehemaligen Gatten in dessen Büro aufsucht. Wo sich die beiden in die Arme fallen, alle Zerwürfnisse ausgeblendet angesichts der aktuellen Geschehnisse, sie weinen eine Minute lang, der Mann streicht der Frau, die er einst so geliebt hat, eine Haarsträhne hinters Ohr, küsst sie zärtlich auf die Stirn, wischt sich mit beiden Händen die Tränen aus dem Gesicht und setzt sich an seinen Schreibtisch. Welches Bild sollen wir denn drauf drucken?, fragt er mit wiedergewonnener Fassung, worauf sie ein digitales Album des gemeinsamen Kindes durchsehen, erneut in Tränen ausbrechen und sich schließlich für ein Passfoto entscheiden, auf dem Alexander Materna nicht besonders vorteilhaft aussieht. Doch das war auch nicht der vorrangige Zweck. Es ging ums Wiedererkennen, ums Finden und nicht ums Erinnern, wie sie sich beide wohl beständig versicherten, ohne es zu sagen. Das war doch … kein Partezettel!
„Herr Major, können Sie sich das bitte anschauen?“ Plank stand unangemeldet in der Tür und machte ein Gesicht, als hätte er eben ein Paket geöffnet, in dem ein abgeschnittener Zeh lag.
„Stets zu Diensten“, murrte Schäfer, erhob sich kunstvoll seufzend und folgte dem Inspektor.
„Da!“ Plank drehte seinen Bildschirm um neunzig Grad und ließ einen Film ablaufen.
„Wer …“ Mehr brachte Schäfer nicht heraus, als er Yvonne Raab auf den Gleisen sitzen sah, den Kopf gesenkt, die Haare, die im Sonnenlicht glänzten.
„Scheiße!“ Der Zug näherte sich, kein Ton, doch die Notbremsung war offensichtlich schon eingeleitet worden, da Funken unter den Rädern sprühten, die Lok schob sich fast geruhsam auf das Mädchen zu, als wäre es ohnehin ausgemacht, dass sie zehn Zentimeter vor ihr stehen bleiben würde. Doch es war Physik, die hier wirkte, kein Drehbuch, das auf ein Atemanhalten des Publikums zielte, sondern ein paar hundert Tonnen Metall, die Yvonne trafen, als wäre sie eine Puppe in einem Crashtest. Wumm, dann unter die Räder, der abgetrennte Arm, das Bein … dann schwenkte die Kamera und der Film zeigte Schäfer, wie er heranlief – er konnte sich nicht erinnern, gelaufen zu sein –, wie er sein Tempo verlangsamte, ein paar Sekunden stehen blieb, weiterging, als wate er in Melasse, sein Telefon in die Hand nahm, offensichtlich etwas sagte, aus.
Ein paar Sekunden starrten Schäfer, Plank und jetzt auch Hornig schweigend auf das unscharfe Standbild, das einen Mann mit seltsamer Sonnenbrille zeigte, der in der linken Hand eine Zigarette hielt und das Display seines Handys betrachtete.
„Was haben Sie eigentlich dort gemacht?“, fragte Hornig weggetreten.
„Was ist denn das für ein beschissener Kommentar“, fuhr Schäfer auf, hielt inne, weil er die Glocke hörte, das Summen des Türöffners, er drehte sich zum Empfangsbereich hin und sah, wie seine Wegbekanntschaft den Posten betrat.
„Jetzt nicht, Frau Nachtigall!“, bellte er sie an, „jetzt sicher nicht!“
„Aber … der Sascha … haben Sie
Weitere Kostenlose Bücher