Es wird Tote geben
…“
„Frau …“
„Materna“, half Hornig aus.
„Ja, Materna … irgendwann muss Schluss sein mit dem Theater“, ging es mit Schäfer durch, „ihr Sohn ist vor über zehn Jahren verschwunden, er hat sich nie bei Ihnen gemeldet, er ist auch sonst nirgendwo aufgetaucht … So leid es mir tut, dass ich Ihnen das jetzt sagen muss, Frau Materna, aber: Ihr Sascha ist tot! … Er kommt nicht zurück, weil er nicht mehr lebt.“
„Herr Major“, Hornig nahm Schäfer am Arm, „das ist doch wirklich nicht nötig.“
„Nein? … Wäre es auch nicht, wenn Sie der Frau irgendwann die Wahrheit gesagt hätten, oder?“
„Aber es ist nicht erwiesen, dass …“
„Aber dann muss ich ihn doch beerdigen“, fiel die Frau den beiden Polizisten ins Wort, ohne irgendwie ge-schockt zu wirken, „beerdigen werde ich ihn wohl können, oder?“
„Ja, natürlich“, Inspektor Plank nahm die Frau am Ellbogen und begleitete sie zum Ausgang, „wir werden uns darum kümmern und sagen Ihnen, wann es so weit ist.“
„Das wäre ganz lieb, vielen Dank.“ Sie lächelte zufrieden und war verschwunden.
Kindergärtner, ging es Schäfer durch den Kopf, ich hätte es durchziehen sollen. Damals, als ich vor dieser Auslage gestanden bin mit den Puppen, den Pixi-Büchern und diesem Prinzessinnenset. Wenn Bergmann mich nicht zum Alberner Hafen geholt hätte, wo diese Frau … Ziermann hatte sie geheißen, Sonja Ziermann … die Herzdame, die …
„Herr Major?“
„Hm? … Ja … ich nehme an, dass dieses Mail von einer anonymen Adresse kommt, oder?“
„Ja“, erwiderte Plank.
„Vielleicht war der mit der Kamera ja auch nur zufällig dort“, meinte Hornig.
„Und das macht es besser?“, fuhr Schäfer seinen Kollegen an, „ah, endlich einmal nicht diese faden Fischreiher, sondern ein junges Mädchen, das sich umbringt, hurra! … Plank: Kümmern Sie sich um die IP-Adressen, schauen Sie das Internet durch, ob dieses Video irgendwo auftaucht … wenn ja, rufen Sie das LKA an und geben ihnen den Link, damit sie das abdrehen … Ich brauche frische Luft.“
Dann saß er im fast leeren Gastgarten eines Wirtshauses, wartete darauf, dass sein Pfefferminztee abkühlte, und kratzte mit dem Fingernagel brüchigen Lack von der Tischplatte. Das morgendliche Vakuum in seinem Kopf hatte sich in einen Überdruck von innen verwandelt. Taten wollte er setzen und wusste nicht, wie und wo anfangen. Von Anfang an: Ein junges Mädchen unter Drogeneinfluss setzt sich am frühen Morgen aufs Bahngleis und wird vom Zug getötet. Ein tragischer Suizid. Unnatürliche Todesursache ohne Fremdeinwirkung. Dann taucht dieser Film auf. Belegt, dass eine unbekannte Person in der Nähe gewesen ist. Aber ist eine Kamera schon Fremdeinwirkung? Unterlassene Hilfeleistung, zumal der Beobachter das Mädchen nicht gerettet hatte. Herzlos, krank, abgestumpft, aber nicht viel anders als die Menschen, die an einem Autowrack vorbeifahren und Fotos machen, ohne sich darum zu kümmern, ob in dem Blechhaufen vielleicht ein mit dem Tode Ringender verkeilt ist. Was geschah mit den Bildern und Videos solcher Vorfälle normalerweise? Sie fanden sich wenig später in den Medien, im Internet oder möglicherweise im digitalen Album eines abgestumpften jungen Mannes („Willst du meine Opfersammlung sehen?“).
Doch wer hielt sich mit einer Kamera im Morgengrauen in der Nähe des Bahndamms auf? Und dann noch das ganze per E-Mail an die Polizei … ein schwachsinniger Scherz von ein paar gelangweilten Jugendlichen? Max und Moritz? „He, heraus! Du Ziegenböck! Schäfer, Schäfer, meck meck meck!“ Also nur eine pubertäre Provokation, die zwar ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ, aber für die eiskaltblütige Jugend ein neckischer Zeitvertreib war? Doch wenn dieses nur der erste Streich, welcher folgte als Nächstes gleich? Schäfer trank seinen Tee aus und rief nach der Rechnung. Hier ewig im eigenen Saft zu schmoren brachte ihn der Lösung nicht näher. Er musste strategisch vorgehen. Er brauchte sein Team. Er fragte sich, ob diese Erkenntnis ein Zeichen von Reife oder Schwäche war.
Zum Schichtwechsel rief er Hornig, Plank, Auer, Friedmann sowie die beiden Iron Cops zusammen, die seit drei Wochen quasi fix auf den Nachtdienst und die Wochenendschichten abonniert waren. Das widersprach zwar den Vorschriften, doch Schäfer hatte deren Ansuchen mit dem Einverständnis aller Kollegen nachgegeben. Schließlich kam es nicht jedes Jahr vor, dass sich zwei Beamte aus dem
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