Es wird Tote geben
verebbt, kein Haus mehr in Sicht, stellte Schäfer auf das Wandertempo um, das mit seinem Gedankenfluss harmonierte. Kujüt, kujüt, rief ein Vogel. Fast dschungelhaft, dachte Schäfer, vielleicht ist irgendwo ein Tukan ausgebüchst. Von diesem exotischen Namen sprangen seine Gedanken zu Sanders, der sie am Vorabend mit seiner so trunkenen wie kreativen Energie befeuert hatte. Kein Wunder, war er doch zum ersten Mal in seinem Leben mit drei Menschen an einem Tisch gesessen, die das taten, was er erfand. Aus dieser Konstellation war tatsächlich so etwas wie – ja, Bergmann, in diesem Fall lasse ich es gelten – ein Energiefeld entstanden, das alle Anwesenden in seinen Bann gezogen hatte. Wobei gesagt werden muss, dass die Akte Materna geradezu prädestiniert war, solch ein kriminalistisches Symposium anzufachen, wie es nach Mitternacht rund um Schäfers Lagerfeuer entstanden war.
Dass bei den Ermittlungen zumindest in den ersten Tagen nach-, wenn nicht gar fahrlässig vorgegangen worden war, stand außer Frage. Alexander Materna war von seiner Mutter am Freitag, dem 3.5.2002, um 00:45 Uhr als vermisst gemeldet worden. Und nicht vor Sonntagabend hatte Chefinspektor Stark das Landeskriminalamt eingeschaltet. Das waren wesentlich mehr als 24 Stunden, wie Sanders zu Recht angemerkt hatte. „Das ist doch unverzeihlich, wenn man bedenkt, dass in solchen Fällen die ersten 48 Stunden entscheidend sind, entscheidend über Leben und Tod!“, hatte der Drehbuchautor deklamiert, der die kompletten Staffeln von CSI , Cold Case und Without a Trace auf DVD zu Hause hatte. Das war jenseits jeglicher moderner kriminalistischer Standards!
„Jaja“, hatte Schäfer gemurrt, „lass uns im Kraut mit deiner Fernsehlogik“, und dann – während der Drehbuchautor von Kovacs’ Hand abgelenkt worden war, die von seinem Unterarm auf seinen Oberschenkel wanderte – einen Fehler in der Ermittlungsakte gefunden, der ihn auch jetzt noch beschäftigte, als er durch den Wald marschierend die Rufe des entflohenen Tukans nachahmte.
„Frau Luise Materna gibt an, bis ein Uhr im Restaurant Zum Goldenen Hirschen gewesen zu sein, was von Doktor Mathias Kettner als auch von zwei Bediensteten des besagten Lokals bestätigt wird …“
„Der Bedienstete Salzl gibt an, Frau Luise Materna sowie Doktor Mathias Kettner von elf Uhr bis etwa ein Uhr bedient zu haben …“
„Die Mutter der vermissten Person gibt an, gegen Mitternacht nach Hause gekommen zu sein und beim Betreten des Wohnhauses als Erstes nach ihrem Sohn gerufen zu haben …“
„Der Trafikant Posch gibt an, die vermisste Person gegen siebzehn Uhr in seinem Geschäft bedient zu haben …“
„Anton S., Schüler, gibt an, bis circa 20:30 Uhr in Anwesenheit der vermissten Person verbracht zu haben …“
„Doktor Mathias Kettner gibt an, die Mutter der vermissten Person gegen siebzehn Uhr in seinem Wohnhaus empfangen zu haben …“
„Herr Leopold Materna bestätigt den Anruf seiner mittlerweile geschiedenen Ehefrau, Luise Materna, wonach sie ihn kurz nach 24:00 Uhr angerufen und befragt hätte, ob ihr gemeinsamer Sohn, Alexander Materna, sich bei ihm befände, was jener verneinte …“
„Doktor Kettner gibt an, Frau Luise Materna gegen Mitternacht vor ihrem Wohnhaus abgesetzt zu haben …“
„Ist das denn niemandem aufgefallen?“, dachte Schäfer laut und schob sich eine Handvoll Blaubeeren in den Mund. 13:00 und 01:00 Uhr sind doch nicht dasselbe! Einmal ist die Materna mit dem Kettner beim Mittagessen, dann kommt sie um fünf Uhr nachmittags zu ihm, dann setzt er sie um Mitternacht bei ihr ab, und überhaupt: Wenn der Sohn um 20:30 Uhr nachweislich bei einem Freund war, was sollte dann das Tamtam um die zwei Stunden, in denen die Mutter mit dem Doktor im Goldenen Hirschen war? Unlogisch war das – im Gesamtkontext der Ermittlungen wahrscheinlich auch unerheblich, zumal die Beamten des LKA keinerlei Spuren eines Gewaltverbrechens gefunden hatten. Aber diese und andere Schlampereien ließen Chefinspektor Stark in einem Bild erscheinen, das wenig mit dem zu tun hatte, das Oberst Kamp und Oberstleutnant Pürstl von ihm gezeichnet hatten. Laut ihren Aussagen – und Schäfer hatte wenig Grund, seinen ehemaligen Ausbildnern und väterlichen Freunden zu misstrauen – war Stark kein kriminalistisches Genie gewesen, aber doch ein gewissenhafter und intelligenter Polizist, der sich durch reichlich Erfahrung und gutes Gespür ausgezeichnet hatte. Und gerade in einem Fall,
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