ESCORTER (German Edition)
perfekt getrimmten Wiesenstück, auf dem nicht ein einziger Löwenzahn blühte oder ein Quadratzentimeter Moos. Der ordentliche Eindruck, den das Haus vermittelte, gefiel ihm.
Hass war ihm ebenso fremd wie Liebe und er fragte sich, ob er seine Mutter hassen würde, sobald er sie sah. Schließlich hatte sie ihn einfach weggegeben wie einen alten Mantel.
»Soll ich dich begleiten?«, fragte Irina.
Er schüttelte den Kopf, öffnete die Beifahrertür und stieg aus. Still und kalt lag das Haus vor ihm. Er könnte wieder gehen. Nach Hause gehen. Reiß dich zusammen, Jakob . Die Klingel verursachte einen angenehmen Laut, einen tiefen Gong, der ihn an den Gong in seiner Schule erinnerte. Minutenlang wartete er. Niemand öffnete. Er spürte den Schweiß, der seinen Nacken hinab rann und Irinas Blick im Rücken. Sicher wurde sie schon ungeduldig. Obwohl es sich nicht gehörte, rüttelte er an der Haustür. Zu seinem Erstaunen ging die Tür auf. Jemand musste den Verschlusshebel nach oben gedrückt haben. Das wunderte ihn, wo sich doch anscheinend niemand im Haus befand.
Das Innere bestätigte den ordentlichen Gesamteindruck. Klare Linien, kein Schnickschnack, perfekte Ordnung und Sauberkeit. Das war ganz nach seinem Geschmack. Während er die Räumlichkeiten inspizierte, stieß er immer wieder klagende Laute aus und knetete nervös den Saum seines T-Shirts. Trotz der äußeren Ordnung war seine innere Anspannung enorm. Nur mithilfe seiner Ticks konnte er sie beherrschen. Auf dem Weg nach oben klammerte er sich an die Stahlseile, als hinge sein Leben davon ab. Seine Handflächen waren so nass, dass sie immer wieder abrutschten.
Ein seltsamer Geruch führte ihn in ein Schlafzimmer. Die Tür zum Schrank stand offen. Dahinter entdeckte er eine fensterlose Kammer, aus der es ekelhaft stank. Rattenkadaver lagen am Boden. Der beunruhigende Anblick passte nun gar nicht zum Rest des Hauses. Angewidert zog er sich zurück und folgte dem Gang zu einem weiteren Zimmer. Das Chaos, das ihn darin erwartete, war fast noch schlimmer als der Gestank von zuvor. Wie konnte jemand so leben?
Er stockte, war versucht, zu gehen, doch die Bilderrahmen auf dem Nachttisch neben dem Bett erregten seine Aufmerksamkeit. Wie Scheuklappen hielt er seine Hände seitlich an sein Gesicht, um das Chaos nicht sehen zu müssen und trat auf die Fotografien zu. Da war sie, das Mädchen von seinen Gemälden. Das Mädchen, das aussah wie er. Seine Schwester. Doreé. Daneben stand eine Fotografie von ihr als Kind gemeinsam mit einem Mann, den Jakob aufgrund der Ähnlichkeit für ihren Vater hielt. Seinen Vater. In der rechten, unteren Ecke befand sich ein heller Fleck, wahrscheinlich vom Blitz. Hinter einem Bücherstapel entdeckte er ein weiteres Bild. Es zeigte seine Schwester im Alter von zwei, höchstens drei Jahren neben einem kleinen Jungen. Neben ihm. Ehrfürchtig ergriff er den Rahmen und betrachtete das Bild. Doreé lächelte. Er selbst blickte ernst, so ernst wie heute. Vielleicht hatte er nie lächeln gelernt. Vielleicht hatten seine Eltern ihn deshalb verstoßen, weil er nicht lächeln konnte. Doreé hielt seine Hand, eine vertrauliche Geste, die er scheinbar ohne das übliche Unbehagen zugelassen hatte. Wie hatte er sie nur vergessen können?
Das Zuschlagen der Autotür und Irinas Stimme drangen zu ihm hinauf. Er reckte den Hals und spähte aus dem Fenster. Irina stand in der Einfahrt und telefonierte. Sie wirkte angespannt. Wie sie von einem Bein auf das andere tänzelte, sich dabei immer wieder nervös durch die Haare fuhr und sich hektisch umsah, fragte er sich plötzlich, wie sie das Haus so schnell hatte finden können. Er hatte ihr nur den Straßennamen, nicht aber die Hausnummer genannt. Doch sie war zielstrebig in die Auffahrt von genau diesem Haus gefahren. Was sagte ihm das?
Irina hob den Kopf und blickte nach oben zu dem Fenster, hinter dem er stand. Ungeduldig winkte sie ihn zu sich herab. Erschrocken zuckte er zurück, wartete ein paar Atemzüge lang, bevor er es wagte, erneut aus dem Fenster zu sehen. Irina war fort.
»Jakob?«, hörte er sie von unten rufen.
Schwindel erfasste ihn. Hatte sein Herz zuvor schon schnell geschlagen, so raste es nun in seiner Brust. »Jakob?« Ihre Stimme, diesmal viel näher. »Bist du noch da oben? Ich habe einen Anruf bekommen und muss leider gehen. Kommst du?«
Nein , hätte er am liebsten geschrien. Geh fort. Geh alleine. Lass mich in Ruhe . Stattdessen stand er wie erstarrt am Fenster, das Foto
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