ESCORTER (German Edition)
von seiner Schwester und sich umklammert und versuchte, sein Herzrasen zu kontrollieren.
Irina kam die Treppe hinauf. Er wagte nicht, sich zu rühren.
»Jakob?« Sie betrat das Zimmer, war direkt hinter ihm. »Was hast du da?«
Er spürte ihre Hand, die sich auf seinen Rücken legte, und zuckte zusammen. Schnell zog sie ihre Hand fort. »Entschuldige. Du bist sicher aufgewühlt. Aber wir müssen gehen. Es scheint sowieso niemand zuhause zu sein.«
Er stieß einen klagenden Laut aus, der in einem genuschelten »Warum?« endete. Warum hast du mich hierher gebracht? Warum belügst du mich? Warum hast du so getan, als wärst du meine Freundin?
»Eine Arbeitskollegin hat sich krankgemeldet, ich muss für sie einspringen«, erklärte sie.
Wie ein gehorsamer Hund folgte er ihr hinaus. Erst im Auto bemerkte er, dass er noch immer das Foto umklammert hielt. Irina kroch auf den Rücksitz und wühlte hektisch in ihrer Handtasche herum. Ihr leises Fluchen verstörte ihn, passte es doch so gar nicht zu der freundlichen Irina, die er kannte. Seine Nackenhaare stellten sich auf. Etwas lief hier völlig falsch. Und dann spürte er den Stich im Hals.
Er sagte etwas, zumindest glaubte er, dass er etwas sagte. Irinas mitleidigem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er nur wieder einen unartikulierten Laut ausgestoßen.
»Tut mir leid«, wisperte sie direkt neben seinem Ohr, dann wurde alles dunkel.
* * *
Wie Doreé es verabscheute, das Glashaus, und wie sie es verabscheute, hierher zurückkommen zu müssen. Die Umgebung im Auge behaltend stieg sie aus dem Volvo und eilte zur Tür. Ihr Wagen stand in der Einfahrt. Mit fahrigen Fingern zerrte sie den Hausschlüssel aus der Jeans, nur um feststellen zu müssen, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. Zögerlich drückte sie dagegen. Kühle Luft und Stille schlugen ihr entgegen. Misstrauisch ließ sie ihren Blick durch den offenen Flur und das Wohnzimmer gleiten. Alles schien unverändert. Sie überlegte, ob sie die Haustür offen lassen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Schließlich wollte sie nicht, dass jeder einfach hereinspazierte, so wie sie es gerade getan hatte. Der Weg nach oben kostete sie große Überwindung. Der Anblick der Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter beschwor Bilder ihres Vaters herauf und von Ophelias nacktem, besudelten Leib. Ein Schauder rann ihren Rücken hinab und sie beeilte sich, den Flur hinter sich zu lassen und in ihr Zimmer zu huschen. Die vertraute Unordnung vermittelte ihr sofort ein Gefühl der Sicherheit. Das war ihr Zuhause, nicht der Rest dieses sterilen Bunkers. Nach einem kurzen Blick in die Runde zerrte sie ihre Reisetasche aus dem Schrank und begann wahllos, Hosen, Shirts, Socken, Unterwäsche und Schuhe hinein zu stopfen. Als nichts mehr hineinpasste, wühlte sie eine Umhängetasche unter dem Bett hervor und eilte zum Nachttisch, um die Fotos einzupacken. Traurig betrachtete sie die Erinnerungsstücke. Ihr Vater und sie vor dem Eingang zum Disneyland-Hotel. Er hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und ihr Kopf ruhte an seiner Brust. Unbeschwert lachten sie in die Kamera. Wann war sie zuletzt so glücklich gewesen? Dass ihre Mutter den Kurzurlaub verabscheut hatte, verstand sich von selbst, doch ihr Vater und sie hatten unglaublich viel Spaß gehabt, daran erinnerte sie sich gut. Der Beweis von glücklicheren Tagen schwemmte die lange unterdrückte Trauer an die Oberfläche. Der Gedanke, dass ihr Vater all die Jahre im selben Haus, kaum zwanzig Meter von ihr entfernt in einer lichtlosen Kammer zugebracht hatte, um dort langsam zu einer ekelerregenden Kreatur zu mutieren, schnürte ihr die Kehle zu. Kraftlos sank sie auf das Bett, schlug die Hände vors Gesicht und weinte. Tränen der Trauer und des Zorns rannen ihre Wangen hinab. Trauer um das Leben ihres Vaters und um ihr eigenes, Zorn auf die Unmenschlichkeit ihrer Mutter und die Dämonenbrut, mit der sie sich verbündet hatte. Und ein Gemisch aus all diesen Gefühlen wegen David, in den sie sich Hals über Kopf verliebt und der sie zutiefst enttäuscht hatte. Tief in sich wusste sie, dass sie eigentlich packen und schnellstmöglich verschwinden sollte, doch der Kummer lähmte sie. Irgendwann rief sie sich zur Ordnung und zwang sich dazu, mit der Heulerei aufzuhören. Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen ab, zupfte ein Taschentuch aus der Spenderbox und schnäuzte hinein. Ohne das Foto eines weiteren Blickes zu würdigen, stopfte sie es in die
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