ESCORTER (German Edition)
Volvo schoss vorwärts und Doreé nahm schnell den Fuß vom Gaspedal. Sofort wurde sie langsamer. Zu langsam. Also wieder Gas geben, Kupplung treten und in den zweiten Gang schalten. Alles klar, klappte doch gut. Ihr Haar fiel in ihr Gesicht und kitzelte ihre Wange. Ungeduldig strich sie es nach hinten und umfasste sogleich wieder den Schalthebel. Der Motor begann zu röhren. Sie musste hochschalten.
Nach einer Weile gewöhnte sie sich an die Gangschaltung, bis sie zur ersten Kreuzung gelangte, den Motor erneut abwürgte und damit den Verkehr lahmlegte. Das Hupkonzert brachte sie an den Rand einer Panikattacke. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Nach dem dritten erfolglosen Versuch, den Wagen zu starten, rammte sie hektisch den ersten Gang ein, gab Vollgas und schoss auf die Kreuzung. Leise vor sich hin schimpfend, folgte sie der Beschilderung nach Potsdam. Auf dem Weg würgte sie den Wagen noch zweimal ab, doch wenigstens bekam sie langsam ein Gefühl für das Verhältnis von Kupplung zu Gaspedal. Trotzdem konnte sie es kaum erwarten, auf ihren eigenen Wagen umzusteigen. Er war nicht nur angenehmer zu fahren, sondern auch wendiger und schneller als der alte Volvo mit seinen lahmen fünfundsiebzig PS. Außerdem wollte sie ein paar Sachen packen, damit sie sich nicht alles neu kaufen musste. Natürlich wusste sie, dass eine Rückkehr in ihr Zuhause, und sei sie nur von kurzer Dauer, mit Gefahr verbunden war, doch sie entschied für sich, dass die Vorteile die Gefahren aufwogen. Sicher würde niemand damit rechnen, dass sie in ihr Zuhause zurückkehrte. Zumindest nicht so schnell.
14
Das Licht weckte ihn aus einer tiefen Ruhe, ähnlich dem Schlaf eines Menschen, nur ohne die Träume und ohne die zeitliche Begrenzung. Er konnte ewig ruhen und ewig wach bleiben, solange sein Träger nicht schlief. Er suchte und er fand, was nicht gefunden werden wollte, und vernichtete es. Das war seine Bestimmung. Oft wünschte er, sie würden ihn alleine losschicken. Selbstbestimmung machte ihn stärker, härter, tödlicher, aber auch unberechenbar. Nun rissen sie ihn aus seiner Ruhe, riefen den Namen, den ihm Satan einst gab. Caligo. Hüter der Schatten.
Aus der Gruft, in der sie ihn schon seit tausend Jahren gefangen hielten, erhob er sich und starrte auf den Mann, der ihn tragen sollte. Er war jünger als der letzte, nur ein Wimpernschlag in seiner eigenen Lebensspanne, doch in seinem Gesicht lag eine trotzige Entschlossenheit, die Caligo gefiel. Neben ihm stand eine Frau. Er kannte sie, hatte sie schon oft gesehen, nackt. War über ihr gewesen, in ihr, als Begleiter seines letzten Trägers. Philippe, den sie getötet hatte. Die verräterische Hure.
»Caligo, trete von der Dunkelheit ins Licht und folge dem Erwählten”, befahl die Frau. Ihre Hände formten die Zeichen seiner Unterwerfung.
Sein formloser Körper erwachte zum Leben, erbebte unter der Kraft der Beschwörung, wie immer, wenn er gerufen wurde. Er sah, wie die Frau den Bannkreis öffnete, sodass er ihn verlassen konnte. Der junge Mann starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Er fürchtete sich. Wunderbar. Hätte Caligo einen Mund und eine Stimme, dann hätte er darüber gelacht. Stattdessen lief ein Zittern durch seine äußere Hülle und er blähte sich auf, soweit es sein aus Dunkelheit und Schatten bestehender Leib zuließ. Fürchten sollte er sich, der menschliche Wurm. Der Schwächling.
»Hab keine Angst, er plustert sich nur auf«, sagte die Frau und lächelte dabei. Sie kannte die Macht ihrer Beschwörung, wusste, dass er gehorchen musste, wie sehr er auch versuchte, sie durch seine bloße Anwesenheit einzuschüchtern. Die Menschen waren ihm bestenfalls egal, doch sein letzter Träger war bei Weitem der Erträglichste unter ihnen gewesen. Wie würde dieser Jüngling sein? Zaghaft? Draufgängerisch? Sadistisch? Was würde Caligos Auge erblicken, wenn er ihm folgte? Was auch immer es war, es musste wichtig sein, wenn sie ihn so überstürzt beschworen, dazu noch ohne die übliche Armada an Escortern, und ihn einem Grünschnabel zuteilten. Das könnte interessant werden.
Geschickt verknüpfte er sich mit dem Schatten des Jünglings, heftete sich an seinen Körper wie eine zweite Haut. Der Junge stand ganz still, was nicht leicht war. Caligo wusste das. Die Kälte, die er verursachte, wenn er sich mit einem fleischlichen Wesen verband, ließ ihnen das Blut in den Adern gefrieren. Im wörtlichen Sinne. Die Körpertemperatur
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