ESCORTER (German Edition)
Kopf. Doreé presste die Lippen zusammen in dem verzweifelten Versuch, ihr Schluchzen zu unterdrücken. Unsanft wurde sie auf die Beine gezerrt und aus dem Wagen gehoben. Jemand fasste sie unter den Armen, führte sie zügigen Schrittes über einen Kiesweg und anschließend eine Treppe hinab in einen kalten Raum oder Gang, in dem es nach Feuchtigkeit und Moder roch. Laut hallten die Schritte von den Wänden wider.
»Gleich sind wir da«, hörte sie ihre Mutter neben sich aufgeregt flüstern.
Jemand oder etwas berührte ihre Wange. Sie zuckte zurück. »Vorsicht, hier sind drei Stufen«, warnte derjenige, der sie unter dem Arm gepackt hielt.
Mit der Fußspitze tastete Doreé nach den Erhebungen und stieg dann zaghaft hinauf. Angenehme Wärme schlug ihr entgegen und Licht, das unter die Ränder der Augenbinde kroch. Sie spürte die Gegenwart von vielen Menschen, hörte ihr Murmeln.
Jemand machte sich an ihrem Hinterkopf zu schaffen, löste den Knoten des Tuches. »Ich nehme dir jetzt die Augenbinde ab«, hörte sie ihre Mutter sagen.
Geblendet blinzelte Doreé in die Helligkeit. Vor ihr lag ein riesiges Gewölbe aus grauem Gestein. Dem Aussehen nach musste es sich um das Kellergewölbe einer Burg oder eines historischen Anwesens handeln. Zahllose Kerzen brannten, dazwischen hingen bunte Lampions von der Decke, die eine festliche Stimmung verbreiteten. Die Menschen hielten Sektgläser in den Händen, was angesichts ihrer Situation grotesk wirkte. Alle starrten sie an. Erwartungsvoll, gespannt, teilweise auch belustigt. Doreés Blick fiel auf ein kreisrundes Loch in der Mitte des Gewölbes. Es sah aus wie ein alter Brunnenschacht. Etwa zwei Meter darüber schwebte, ohne erkennbare Halterung, eine hölzerne Plattform. Ein mulmiges Gefühl kroch Doreés Rücken hinauf.
»Was ist das?«
Ihre Mutter legte beruhigend eine Hand auf ihre Schultern, beugte sich lächelnd zu ihr und flüsterte: »Das, meine Tochter, ist das Tor zur Gegenwelt.«
22
Irina hockte neben dem Bett, den Rosenkranz in der Hand, und betete. Jakob saß gegen die Wand gelehnt und starrte an ihr vorbei auf das Holzkreuz gegenüber. Ein erster Strahl der aufgehenden Sonne stach durch die Jalousien und kränzte das Haupt Jesu mit goldenem Licht.
Jakob empfand es wie Hohn. Die ganze Nacht hindurch hatte dieser Kurt ihn gezwungen, zu stehen, hatte ihn nicht schlafen lassen und ihn mit Fragen gelöchert. Mit Forderungen. Mit Anschuldigungen.
Kurz vor Morgengrauen dann hatte er ihn gezwungen, sich nackt auszuziehen und ihn erst mit eiskaltem Wasser übergossen und anschließend mit so heißem, dass sich seine Haut gerötet hatte. Währenddessen hatte Ben Nuru gebetet. Auch Irina hatte gebetet und geweint. Kurt hatte ihm die Narben auf seinem Rücken präsentiert und ihm damit gedroht, dasselbe mit ihm zu tun, sollte er sein Schweigen nicht brechen. Mit allen Mitteln hatten sie versucht, ihn zum Sprechen zu bewegen. Sie verstanden nicht, dass er es nicht konnte, dass alles, was sie taten, ihn nur noch weiter von dieser Welt entfernte.
Als er endlich in sein Zimmer zurückkehren durfte, hatte Irina ihm Fotos gezeigt. Von Doreé. Er dachte bei sich, wie hübsch seine Schwester doch war und wie sehr er sich wünschte, sie zu treffen. Er dachte an das Leben, das er hätte führen können, mit ihr an seiner Seite, hätten seine Eltern ihn nicht weggegeben. Er dachte an all die Dinge, die normale Menschen erlebten, an Freunde, Beruf, Familie, Kinder. Dinge, die für ihn so unerreichbar waren wie eine ferne Galaxie.
Nun lag er auf dem Bett, zu müde, um irgendetwas anderes zu empfinden als Verachtung für diese Leute, die sich Streiter des Herrn schimpften und behaupteten, gottesfürchtig zu sein. Irina betete. Der Klang ihrer Stimme lullte ihn ein wie die Schlaflieder seiner Pflegemutter.
»Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens«, betete sie. »Dass ich liebe, wo man hasst, dass ich verzeihe, wo man beleidigt, dass ich verbinde, wo Streit ist, dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht …«
Flink glitten die Perlen des Rosenkranzes durch ihre Finger, während ihre Augen auf seinem Gesicht ruhten.
»Dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält, dass ich Freude bringe, wo Kummer wohnt, dass ich ein Licht anzünde, wo Finsternis regiert.«
Ihre Hand wanderte seinen Arm hinauf. Sanft legte sie die Finger auf seine Schulter, tastete über den Rand seines Shirts nach einem Stück nackter Haut. Sofort versteifte Jakob sich
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