Esel
sehen.
Günter hat die Schultern eines Schwergewichtsboxers und die Hände eines Klavierspielers. Irgendeine Beschäftigung muss ihn jahrelang dazu veranlasst haben, nur mit der Oberkörpermuskulatur zu arbeiten. Etwas körperlich Anstrengendes haben diese Hände noch nicht tun müssen. Ich kann das beurteilen, ich habe ähnlich zarte Hände, nur bei meinem Oberkörper wird es nicht zu einem Vergleich auf Augenhöhe kommen. Hoffentlich ist Günter kein Lehrer, der hier sein Berufsaussteigertum probiert, denn fast noch schlimmer als Lehrer sind Exlehrer. Er könnte ein Sportlehrer sein. Die sind oft auch athletisch, ohne je richtig gearbeitet zu haben. Sport und Religion, die Easy-Rider-Kombination des deutschen Bildungswesens, die bei allen, die richtig studiert haben, sofort diesen verständnisvollen Blick in die Pupillen zaubert. Natürlich, Sport und Religion, ganz hartes Studium, schaffen die wenigsten, und dann als Lehrer auch kein leichter Weg, diese ewigen Weiterbildungen, um dranzubleiben. Gerade beim Thema Religion, da ändert sich ja ständig was. Englisch und Geschichte ist auch nicht gerade das, was man unter einer Powerfächerkombination versteht, aber in der Hierarchieliste der akademischen Anerkennung steht sie deutlich höher als Sport und Religion, und zwar, deutlich unterhalb von Mathe und Chemie, in einem soliden Mittelfeld.
Günter ist das, was man bei uns einen Pfundskerl nennt. Ein Mann, dessen pure Präsenz jeden Zweifel vernichtet. Ein Kerl, der nur ein Urteil verdient: Spitzentyp, Klasse, weitermachen! So unglaublich es ist, aber es scheint tatsächlich Menschen zu geben, die ihren Job gerne machen und für die ein Kunde keine Bedrohung darstellt, sondern auch ein wichtiger Bestandteil ihrer Existenz ist.
»Günter.«
»Björn.«
Wir schütteln uns die Hand, und ich spüre, dass diese Begegnung die erste gute sein muss, seit ich diese Gegend hier erreicht habe. Ich fürchte, es wird auch die letzte gute sein. An manchen Tagen neige ich zum Pessimismus – wenn ich in nassen Klamotten stecke, besonders.
»Fürchterliche Stimme, oder?« Günter nickt in die Richtung, in der Sabine sich rührend um Inge kümmert und ihre feuchte Mähne trockenstriegelt.
»Fürchterlich ist noch untertrieben.«
Wir nicken uns zu, maximales Verständnis. Das Ergebnis jahrtausendealten kollektiven Leidens.
»Hast du Hunger?«
Ich hasse Spontanduzer, bei Günter finde ich es aber völlig in Ordnung. Und ganz ehrlich, so wie ich aussehe, nass von oben bis unten, wirke ich nicht wie jemand, dem man mit übertriebener Etikette kommen muss oder respektvollen Kommunikationsregeln.
»Ja, Hunger habe ich. Hast du vielleicht auch etwas zum Anziehen, bis ich wieder trocken bin?«
»Ich hol’ dir was.«
Während Günter ins Haus trabt, winkt Sabine mir aus der Entfernung zu. Ich winke zurück.
»Hast du schon was zu essen bestellt?«, brüllt Sabine mir zu, so dass man es auch im fernen Berlin noch verstehen kann.
Ich schüttele den Kopf.
»Mach mal, für mich Nudelsüpp!«, fordert mich die Stimme auf.
Friedhelm, der neben Inge steht, wirft seinen Kopf hin und her. Ich bilde es mir nicht ein, es sieht aus wie ein Kommentar. Für den Hauch einer Sekunde schießen mir Gedanken zum Thema Wiedergeburt durch den Kopf. Friedhelm hat etwas zutiefst Menschliches in seinen bescheidenen Gesten. Und ich stimme ihm zu, wer diese Stimme hört, kann den Kopf nur hin und her werfen.
»Mach’ ich!«, brülle ich zurück und gehe nun ins Haus.
Schwapp. Schwapp. Schwapp.
»Das ist doch keine Nudelsuppe«, murmele ich, während ich in der dampfenden Flüssigkeit vor mir herumrühre.
»Nee, Nudelsüpp«, korrigiert mich Sabine.
Und langsam ist mein Reservoir an Gleichmut und Verständnis aufgebraucht.
»Warum sagst du immer Süpp?«
»Weil es Süpp heißt hier!«
»Von mir aus, aber Nudeln sind das nicht, das sind doch Kartoffeln.«
»Ja, Kartoffeln.«
»In einer Nudelsuppe?« Hier sagen sie Nudel zur Kartoffel.
»Stimmt«, fügt Günter hinzu, der mir ein frisches Glas Bier auf den Tisch stellt. Und wenn er es sagt, macht es mir nichts aus.
»Der Björn muss noch eine Menge lernen, was, Günter?«
»Wenn du das sagst, Sabine.«
Sabine lächelt mich an, als hätte ich gerade erst meine Einschulungstüte bekommen. Ich trinke ein paar hastige Schlucke und hoffe, dass die Wirkung des Bieres so schnell wie möglich einsetzt.
Während ich mir nun vorstelle, wie es wäre, Sabine doch noch zu beißen, auf
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