Esel
geschrieben, man wird sich wiedersehen, irgendwann, irgendwo.
Heute also – Plötzen am Niedersee. Eine lange Etappe, aber eine Etappe voller Ruhe, und deshalb freue ich mich fast schon darauf. In Lucca wäre ich jetzt nicht so leicht zufrieden, da müsste es schon die Aussicht auf ein Essen in der Trattoria Don Cimenese sein oder ein tolles Buch, das darauf wartet, von mir verschlungen zu werden, oder eine Shoppingtour nach Florenz, mit Karin.
Karin!
Soll ich sie jetzt mal anrufen? Nein, nicht um diese Zeit, sie wird mich töten. Obwohl, dass ich um diese Zeit mit einem Esel durch die allmählich erwachende Uckermark flüchte, die Zivilisation außer Sichtweite, frierend, einsam, all das ist ihr Verdienst. Sie trägt die Verantwortung, das dürfte ich sie jetzt auch spüren lassen. Ich krame nach meinem Handy, gleich ist dein Schlaf vorbei, mein Schatz.
Nein, ist er nicht – kein Netz. Auch das noch.
Friedhelm und ich gehen schweigend nebeneinander her, der Führungsstrick baumelt lose zwischen uns, eigentlich könnte ich auch ganz drauf verzichten.
»Okay, Test!«
Ich nehme ihm den Strick ab. Friedhelm nimmt es ohne jede Regung zur Kenntnis. Er geht weiter brav neben mir.
»Besser, oder?«
Er schaut tatsächlich kurz zu mir herüber. Im zwittrigen Licht zwischen Nacht und Tag glänzen seine dunklen Augen. Wenn ich ihm dafür jetzt ein Kompliment mache, wird er es falsch verstehen, und ich werde mich dafür schämen, das lassen wir mal lieber.
Friedhelms Schweigen ist das Angenehmste, was ich seit langer Zeit erleben durfte. Er gibt keinen Laut von sich, weder das Klischee-Iaaaa noch ein Grunzen, Schmatzen oder sonstiges Geräusch. Er furzt noch nicht mal. Dass ich einen Esel brauche, um mal runterzukommen, hätte ich mir nicht träumen lassen. Und das werde ich auch niemandem auf die Nase binden.
Wir laufen jetzt schon seit zwei Stunden in Richtung Plötzen, und ich habe Hunger, großen Hunger. Aber wo auch immer ich hinschaue, kein Haus in Sicht, keine Tankstelle, kein gar nichts. Nur Landschaft, Landschaft, Landschaft.
So oft, wie ich mich in den letzten Stunden bewegt habe, habe ich mich während meines gesamten Studiums nicht bewegt, wenn man die Gänge zur Mensa und zum Zigarettenautomaten mal abzieht. Ich hätte wirklich besser frühstücken sollen. Günter hätte nichts dagegen gehabt, wenn ich mich aus seinem Kühlschrank bedient hätte. Die Angst vor der Stimme hat mich darauf verzichten lassen. Frauen wie Sabine werden schon von dem Geräusch wach, wenn jemand ein Marmeladenglas öffnet, und schon stehen sie neben dir und beginnen ein erstes, nicht enden wollendes Gespräch. Dann lieber Hunger.
Nicht nur in den frühen Morgenstunden, aber da ganz besonders, gehört die Uckermark zu den wenigen Landstrichen in Deutschland, in denen ein Wanderer noch an Skorbut sterben kann. Oder an einer anderen Mangelerkrankung. Die Auswahl an Lebensmitteln beschränkt sich auf natürliche Feinkost für Esel und andere Köstlichkeiten der Natur, an denen nur Nager, Rehe und Insekten ihre Freude haben. Friedhelm hat keinen Hunger, er findet überall etwas. Doch alles, was er sich zwischendurch ins Maul stopft, würde bei mir zum unmittelbaren Tod führen. Und niemand würde mich finden. Hier ist man allein, lange Zeit, mindestens bis Plötzen. Und jetzt schießt mir ein Gedanke durch den Kopf, der mich meinen Hunger sofort vergessen lässt: Meine Flucht ist völlig sinnlos, spätestens in Plötzen werde ich Sabine wieder treffen. Ich werde eher da sein als sie, aber abhängen werde ich sie nicht!
Friedhelm scheint Gedanken lesen zu können. Er schüttelt sich und schaut mich fragend an. Ja, fragend!
»Keine Ahnung, was machen wir denn jetzt?«
Ich krame die Karte aus dem Rucksack. Da ist Plötzen, die nächste Station ist Trillenberg, noch mal 17 Kilometer weiter.
Zu weit.
»Scheiße.«
Friedhelm zuckt kurz, fühlt sich aber nicht direkt angesprochen. Besser so.
»Scheiße. Scheiße. Scheiße.«
Ist unsere Flucht gescheitert? Wann habe ich mich zum letzten Mal so elend gefühlt. Ich weiß es genau, das war, als ich die mit Abstand schlimmste Klasse der ganzen Welt nach Borkum begleiten musste, weil meine geschätzte Kollegin komischerweise einen Tag vor Beginn der Klassenfahrt an einem sehr seltenen Virus laborierte. Der selbstverständlich nach der Klassenfahrt vollständig weg war. Alle wussten, dass sie schon gesund war, als sie die Rücklichter des Reisebusses sah, beweisen aber konnte
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