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Esel

Esel

Titel: Esel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Gantenberg
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es ihr niemand. Blitzgenesungen sind in unserer Branche üblich.
    »Was machen wir denn jetzt?«
    Statt zu antworten, widmet sich Friedhelm einer Grassorte, die ungewöhnlich hoch wächst und scheinbar wahnsinnig lecker schmeckt. Sein Hunger ist größer als sein Problembewusstsein. Von seiner mangelnden Solidarität mal ganz zu schweigen. Was soll man auch von einem Mietesel erwarten. Mehr als ein ihm völlig unbekannter Strickführer und Kilometerfresser bin ich nicht für ihn. Wahrscheinlich würde ich an seiner Stelle genauso denken.
    Wahrscheinlich hat Friedhelm nur eine andere Reihenfolge fürs Wesentliche im Kopf: erst satt werden, dann denken. Vielleicht gar nicht so doof. Ich werde trotzdem kein Gras essen, ich muss erst denken.
    Mein Blick fällt auf diese übertrieben bunte Eselwanderkarte, in der alles eingezeichnet ist, das für einen Eselwanderer relevant ist. Essen, Schlafen, Wandern. Die Sehenswürdigkeiten sind separat aufgeführt und fallen auf meinem aktuellen Streckenprofil eher spärlich aus.
    Ich hasse Karten. Ich will mir nicht vorgaukeln lassen, dass die Strecken, die ich mit dem Zeigefinger abmarschiere, wirklich nicht lang sind. Sie sind es, und diese Maßstabsverkleinerungen sind nur verlogene Illusionen.
    Eins steht fest, ich werde auf keinen Fall Sabine in die Arme laufen, und ich werde auch nicht auf der vorgezeichneten Route irgendwo auf sie warten. So blöd kann man nicht sein. Nicht freiwillig, nicht wenn man in der Sekundarstufe  II unterrichten darf und seit zehn Jahren dem Finanzamt erfolgreich beweisen kann, dass man auch zu Hause ein Arbeitszimmer braucht, das man steuerlich absetzen muss. Ich kann das, viele meiner Kollegen nicht. Björn Keppler hat es drauf, auch wenn das einige Herrschaften im Kollegenkreis nicht unterschreiben würden, aber die können ja auch ihre Arbeitszimmer nicht absetzen. Weicheier ohne Mut zum Risiko, verbeamtete Schissbuxen. Was kann schon passieren, wenn man auffliegt? Einzelhaft? Lächerlich. Strafversetzung an eine Hauptschule? Okay, das macht Angst, vielleicht setze ich im nächsten Jahr das Zimmer nicht mehr ab. Doch jetzt gibt es Wichtigeres.
    Mein Entschluss steht fest: Ich werde mit Friedhelm von der Route abweichen. Das ist verboten. Das steht dick und fett in der Anleitung. Das ist ein ungeschriebenes Eselwandergesetz. Artikel 1 – Die Würde des Esels ist unantastbar, die vorgeschriebene Route auch!
    Eintrag ins virtuelle Klassenbuch – Björn Keppler verweigert sich!
    Mich beschleicht ein Gefühl von Freiheit.
    Friedhelm und ich durchbrechen alle Konventionen, wir halten uns an kein Gesetz. Wir sind die Piraten der Uckermark.
     
    Es ist so lächerlich, aber ich fühle mich wohl dabei. Ich trabe durch ein kleines Brennnesselgebüsch, und ich genieße den Schmerz. Ich genieße jede einzelne dieser kleinen Quaddeln, die mir zeigen, wie wenig ich mich jetzt noch um Wege und Routen schere. Wenn ich diesen Weg da vorne gehen will, dann gehe ich ihn. Und Friedhelm folgt mir. Auch für ihn beginnt das Abenteuer. Neue Wege, neue Herausforderungen.
    Niemand wird uns stoppen.
    Niemand!
    »Hallo? Sie da! Hallo?«
    Die Stimme kenne ich nicht. Ich drehe mich trotzdem um.
    »Da dürfen Sie nicht durch«, sagt ein Mann, dessen gesamte Erscheinung aussieht wie eine explodierte Kirmeswurfbude. Ein zusammengewürfelter Mix aus braunen Cordresten und aufgerautem Fleece.
    »Ah, wer sagt das?«, entgegne ich keck und selbstbewusst.
    »Heiner Lüttenjohann.«
    »So?! Und wer ist das?«
    »Das ist der Förster von Plötzen.«
    »Ah ja, gut, dann bestellen Sie dem Förster von Plötzen mal einen schönen Gruß. Ich gehe, wohin ich will.«
    »Nee.«
    »O doch.«
    »Nee.«
    »Guter Mann? Ich will mich nicht streiten, ich muss weiter«, sage ich so bestimmt, wie es geht.
    »Ich bin Heiner Lüttenjohann, der Förster von Plötzen.«
    »Oh.«
    »Ja, oh! Und nu?«
    »Ja, dann ähm … gehe ich mal wieder auf den Weg.«
    »Nee.«
    »Nee?«, frage ich, so gar nicht mehr keck und selbstbewusst.
    »Erst zahlen.«
    »Wie?«
    »Zahlen.«
    »Wofür. Wegemaut, oder was?«
    »Strafe!«
    »Ich hab’ doch gar nichts gemacht, ’n paar Brennnesselbüsche habe ich plattgetreten, das war alles.«
    »Die Krause Glucke.«
    »Was?«
    »Die Krause Glucke, die haben Sie auch kaputt gemacht.«
    »Die kenn’ ich überhaupt nicht.«
    Er zeigt auf ein seltsames Gewächs, das sich um einen Nadelbaum gelegt hat.
    »Krause Glucke, blumenkohlartiger, großer, gelblich-weißer

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