Esel
Strecke nach Lucca, und ich fuhr jedes Jahr die gleichen Umgehungen. Karin fand das spießig, wie sie mir irgendwann mal zwischendurch verriet. Ich fand es nicht spießig und auch nicht feige. Sich freiwillig einem Stau auszusetzen ist nicht mutig, sondern schlichtweg doof.
»Zähfließend, wenn überhaupt«, kommentierte Karin die kurz vor Florenz immer häufiger aufleuchtenden Rücklichter der vor uns fahrenden Autos.
»Ja, ja, zähfließend«, bestätigte ich.
»Zähfließend ist kein Stau. Und auf deiner blöden Umgehung wären wir jetzt schon sechsmal von einer roten Ampel gestoppt worden.«
»Fünfmal.«
»Ja, Björn, danke für den Hinweis.«
»Gerne.«
»Blödmann!«
»Was?«
»Blödmann!«
Im letzten Jahr verlief die Hinfahrt nach Lucca in ungewöhnlich gereizter Stimmung. Während meine Laune sich mit jedem Kilometer in Richtung Toskana verbesserte, wurde Karins Anspannung immer deutlicher. Den entscheidenden Fehler machte ich mit einer vergleichsweise harmlosen Frage, die man nie stellen sollte, wenn man die Antwort im Grunde schon weiß.
»Bist du irgendwie schlecht gelaunt?«
Vor der Frage war Karin ein bisschen schlecht gelaunt, danach richtig. Die emotionale Temperatur ging unter null. Wo eben noch ein Hauch von Hitze war, herrschte nun Eiszeit.
Den Stau, der vor uns lag, wagte ich nicht zu kommentieren.
Wir haben mehr als zwei Stunden gestanden. Während der Asphalt zu flirren begann und Menschen in Wohnwagen ihre Satellitenschüsseln ausrichteten, um sich die Zeit auf der italienischen Autobahn mit deutschem Fernsehen zu vertreiben, schwiegen wir uns an.
Irgendwann wurde es Karin zu viel.
»Sag schon«, schnaubte sie.
»Was?«
»Der Stau.«
»Was ist damit?«
»Komm, tu doch nicht so, wenn ich auf dich gehört hätte, säßen wir jetzt nicht hier.«
»Habe ich nicht gesagt.«
»Aber gedacht.«
»Und wenn, Karin. Bringt doch jetzt alles nichts, wir stehen jetzt hier und gut. Wir haben ja Zeit. Wenn wir jetzt auch nur 14 Tage Urlaub hätten, wie die anderen, aber wir? Vorteil – Lehrer! … Zeit ohne Ende.«
»Weißt du, was das Schlimmste an dir ist, deine Selbstgerechtigkeit.«
»Was soll ich denn jetzt sagen?«
»Einfach mal nichts!«
»Wär’s dir lieber, wenn ich gesagt hätte: Ja, ich hatte recht, wären wir doch mal abgefahren –, so was?«
»Ja, immer noch besser als dieses arrogante … bringt doch nichts … und wir haben ja so viel Urlaub.«
»Was denn jetzt, arrogant oder selbstgerecht?«
»Björn, jetzt nicht auch noch so.«
»Ich frag’ doch nur.«
»Nein, du versuchst, mich zu kontrollieren.«
»Wo denn?«
»Jetzt!«
»Wo kontrolliere ich denn?«
»Du versuchst, mich kleinzumachen.«
»Wie?«
»Mit diesen Fragen!«
»Was für Fragen?«
Jetzt grunzte Karin irgendwas Unverständliches, sicherheitshalber fragte ich aber nicht nach, sondern entschied mich für einen pädagogischen Kurswechsel.
»Karin, komm, sobald es geht, fahr’n wir ab und gehen irgendwo ’ne Kleinigkeit essen, hm?«
»Nein.«
»Wenigstens einen Kaffee?«
»Nein.«
»Willst du lieber hier auf der Bahn stehen?«
»Ja. Und wenn du mir noch eine einzige Frage stellst, dann platz’ ich.«
»Okay, bin schon ruhig. Willst du wenigstens eine Banane?«
Karin platzte nicht, aber sie haute auf das Lenkrad und schwieg dann bis Florenz.
18. Das Ende der Feigheit, hallo, Sabine
Ich bin erschöpft, nicht nur, weil Friedhelm mit jedem Meter bockiger wurde, den wir uns der Alten Post näherten. Nein, ich wäre auch ohne ihn am Ende. Wer zurückläuft, muss ja auch mal hingelaufen sein. Jetzt spüre ich nicht nur jeden Muskel, sondern auch das Fehlen meines Schlafes. Normalerweise ist mein Akku in dieser Phase der Schulferien bereits wieder vollständig aufgeladen, jetzt hängt er durch, mehr als je zuvor.
Inge steht im Hof, bereits bepackt, und jetzt ist Friedhelm endgültig nicht mehr der friedliche Kumpel, der schweigend stundenlang neben einem marschieren kann. Er verwandelt sich in ein Monster. Seine Haare stellen sich auf wie bei einem Sozialarbeiter, der bei einem Pitbullbesitzer in Neukölln eine unangemeldete Hausbesichtung machen möchte. Nur, dass sich die Haare bei meinem Esel nicht aus Angst aufstellen, sondern nur, um ihn noch mächtiger, größer und fieser erscheinen zu lassen. Zudem weiten sich Friedhelms Nüstern, als gälte es, Platz für ein Autoreifenpiercing zu machen, wie es einige meiner Schüler tragen. Halten kann ich ihn jetzt nicht mehr.
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