Esel
Unmöglich, selbst wenn ich es wollte. Hier gewänne ungebändigte Kraft gegen bestenfalls gute Absicht, ein ungleicher Kampf, nicht nur im Vergleich zwischen Esel und Mensch. Friedhelm schießt mit einem markerschütternden Angriffsschrei los. Inge weiß genau, was sie jetzt zu erwarten hat – den ersten Biss an einem Morgen, der doch so schön angefangen hat.
Mir bleibt nur die Rolle des Beobachters, eines feigen Zeugen, der dieses Drama hätte verhindern können, wenn er nicht so blöd gewesen wäre, sein Portemonnaie in der Alten Post zu vergessen.
Sabine kommt aus dem Haus gerannt.
»Gehst du wohl da weg, gehst du wohl!«
Friedhelm geht natürlich nicht weg und fügt seinen Beißattacken nun auch noch den einen oder anderen kleinen Tritt hinzu.
Sabine weiß sich zu helfen. Inge nicht. Die Stimme schnappt sich einen Wasserschlauch, dreht den Hahn auf und vertreibt Friedhelm mit einem eiskalten Strahl, wie einen AKW -Gegner in Brokdorf.
Mein Auftritt.
Sabine streichelt Inge tröstend, ohne sich weiter um Friedhelm zu kümmern. Sie schimpft nicht mal mit ihm. So gesehen ist sie eine Seele von Frau. Nicht nachtragend, mitfühlend und äußerst beschützend.
»Björn!«, flötet sie, »guten Morgen«, als wäre nichts geschehen. Kunststück, für sie ist auch nichts geschehen.
»Sabine. Na?«
»Wo warst du?«
»Ich?«
»Hab schon gedacht, du wärst ohne mich losmarschiert.«
Sie lächelt dabei, als wäre dies der unsinnigste Gedanke auf Erden.
»Ähm …« Mir fehlen die Worte. A danger foreseen is a danger avoided, fährt es mir durch den Kopf. Aber englische Sprichwörter helfen hier nicht weiter. Hier wäre deutscher Klartext angesagt.
Am Fenster sehe ich Günter. Er wedelt mit einem Blatt Papier und schüttelt dazu den Kopf. In dem Brief steht, dass wir uns wahrscheinlich nie wiedersehen werden. Das stimmt schon mal nicht.
»Habt ihr euch schon die Beine vertreten?«, will Sabine wissen.
A lie will go round the world while truth is pulling its boots on, noch so ein Sprichwort, das auf Deutsch saublöd klingt.
»Ja. Ausgiebig.« Was definitiv keine Lüge ist und der Wahrheit den Sprung in die Schuhe erspart.
»Na, nicht, dass du dir zu viel vornimmst?! Nach Plötzen, das zieht sich.«
»Ich weiß.«
»Woher?«
»Ich komme gerade daher.« Die Wahrheit, wie tapfer.
»Aus Plötzen?«
»Fast.« Du steigerst dich, Björn, jetzt nicht nachlassen.
»Wie meinst du das?«
Ich weiß genau, Sabine ist die Schneelawine, vor der ich jetzt flüchten kann oder nicht. »Wie ich’s gesagt habe.« Gut, weiter, du schaffst es.
»Ich versteh nicht, wie meinst du das, fast?«
»Ich … ich … ich bin die Strecke schon mal gelaufen.«
»Warum?«
Die Stimme dreht auf, erreicht ohne Ankündigung Frequenzen, die tödlich sind.
Ich schweige. Die Schneelawine rollt auf mich zu. Vielleicht doch lieber eine Lüge auf Weltreise schicken? Eine kleine Lüge? Eine Notlüge? Eine Teilwahrheit?
»Björn?«
Was soll ich ihr jetzt sagen, gleich wird sie mich unter sich begraben.
»Björn?«
Die Schneelawine spricht nicht mit mir, sie beschießt mich mit Tönen, die das Leitungsende einer Nervensynapse in eine brennende Zündschnur verwandeln.
Ich sehe, wie Günter aus dem Haus tritt. Er hat noch immer meinen Brief in der Hand. Er wird ihn erst gerade entdeckt haben.
Friedhelm kommt zurück. Er schüttelt sein nasses Fell, dann blickt er zu mir. Wie Günter. Beide erwarten von mir etwas. Tod oder Freiheit. Mut oder Feigheit. Es gibt keine Alternative.
»Sabine?« Wenn ich jetzt nicht die Wahrheit sage, wird die Lawine dafür sorgen, dass ich nie wieder die Wahrheit sagen kann.
Ich darf auch Günter und Friedhelm jetzt nicht enttäuschen. Inge ist mir egal, die hat mich eh nie beachtet. Aber Sabine ist mir nicht egal. Verdammt, warum nicht? Ich habe Schülern ins Gesicht gesagt, dass selbst der Kauf eines Radiergummis keinen Sinn macht und ein weiterer Schulbesuch noch weniger. Ich habe übermotivierten Eltern schonungslos erklärt, dass ihr Kind nahezu intelligenzfrei unterwegs ist und jede Bildungsoffensive meinerseits nur auf ein gigantisches Vakuum trifft. Aber dieser noch immer wildfremden Frau, die sich einen Max halluziniert, kann ich nicht die Wahrheit sagen?
Warum? Warum? Warum? »Sabine, ich habe mein Portemonnaie vergessen.«
»Wo?«
»Auf dem Tisch?«
»Ja, und?«
»Sabine?«
»Ja?« Erst jetzt begreift sie, was ich mit dem, was ich gerade gesagt habe, sagen wollte. »Du bist nur
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