Esel
holen.
»Margot, komm mal.«
»Was ist denn?«, fragt jemand aus dem Hintergrund.
»Komm.«
»Warum?«
»Komm.«
Und schon ist sie da – die Margot. Man muss sie nur dreimal bitten, dann reagiert sie beinahe spontan. Die gute Frau.
Auch sie trägt einen Trainingsanzug, scheint ihn aber nicht so oft zu benutzen wie ihr Mann. Das Gelb ist deutlich weniger verblasst. Vielleicht wäscht sie ihn auch nur weniger, doch so genau möchte ich es gar nicht wissen.
Margot schaut mich an, verzieht dabei aber keine Miene.
Ich nicke den beiden zu. Sie nicken nicht zurück. Wahrscheinlich wollen sie nichts riskieren, weder Freundlichkeit noch Abweisung. Angewandte Neutralität, ein Hauch von Schweiz, mitten in der Uckermark.
»Gibt es hier einen Arzt?«, will Sabine von den beiden Trainingsanzügen wissen.
»Wo?«, fragt der Mann.
»Hier«, antwortet Sabine.
Ich verdrehe die Augen, das darf doch alles nicht wahr sein.
»Nee«, antwortet die Frau des Mannes.
»Wo ist denn der nächste Arzt?«
»In Katwitz.«
»Nee, der ist tot.«
»Stimmt, dann in Molchow.«
»Ja, Molchow.«
Margot und ihr Mann scheinen sich nun sicher zu sein. Katwitz nicht, Molchow schon.
Ich habe es geahnt, diese Reise wird meine letzte sein. Weiß der Teufel, wie weit es noch bis Molchow ist.
»Wie weit ist es denn noch bis Molchow?«, erkundigt sich Sabine für mich.
»Zwölf Kilometer«, sagt der Mann.
»Vierzehn«, sagt Margot und schaut ihren Mann dabei fast strafend an.
»Zwölf.«
»Vierzehn.«
Dann denkt er nach, vielleicht hat sie recht. Zwei Kilometer Unterschied, da kommt man ins Grübeln, ganz egal, ob da jemand auf einem Esel liegt und Schmerzen hat oder nicht.
Aber jetzt fällt ihm ja schon ein, wie es zu den zwei Kilometer Unterschied zwischen seiner und ihrer Meinung gekommen ist.
»Stimmt, wegen der Sperrung.«
»Ja, die Sperrung.«
»Normalerweise sind es zwölf.«
»Aber wegen der Sperrung sind es vierzehn.«
»Ja.«
»Sag’ ich doch.«
»Gibt es denn hier ein Taxi?«, fragt Sabine, während ich überlege, in die Satteldecke von Friedhelm zu beißen.
»Ja«, sagt der Mann.
»Mehrere«, ergänzt die Frau.
Diesmal kommt es zu keinem Disput, die beiden sind sich einig. Glück gehabt.
»Können Sie uns vielleicht ein Taxi rufen, der Mann hier ist verletzt.«
»Wo denn?«, will der Mann nun wissen.
»Am Unterleib«, antwortet Sabine brav.
Danke, Sabine.
»Schlimm?«, erkundigt sich die Frau.
»Ich glaube schon. Könnten Sie dann jetzt vielleicht ein Taxi rufen?«
»Das dauert aber.«
»Äh, warum«, fragt Sabine.
»Taxen gibt es nur in Molchow.«
Warum ich? Warum Plötzen? Warum diese beiden Trainingsanzüge? Warum? Warum?
»Sie könnten es auch beim Nachtigall versuchen«, schlägt jetzt der Mann vor und kommt einen Schritt näher, als gälte es, ein Zeichen der Annäherung zu setzen.
»Nachtigall?«
»Dr. Nachtigall.«
»Ein Arzt?«
»Ja«, sagt die Frau.
»Wo ist der denn?«
»Hier«, sagt der Mann.
»Wo, hier?«, hakt Sabine nach.
»Na, hier. In Plötzen.«
»Ich dachte, hier gäbe es keinen Arzt.«
»Den schon, aber der ist nicht von hier. Der kommt aus Lüdenscheid.«
Für den Mann mit dem Trainingsanzug scheint das sehr wichtig zu sein. Wer nicht aus Plötzen stammt, den gibt es für ihn nicht. Für mich schon. Ich habe unfassbare Schmerzen, und mir ist es scheißegal, woher dieser Dr. Nachtigall stammt. Er könnte vom Jupiter kommen, Hauptsache, er hat Medizin studiert und eine Vorliebe für Privatpatienten mit Beihilfeanspruch.
»Wo finden wir denn den Herrn Dr. Nachtigall?«
Ja, Sabine, genau das hätte ich jetzt auch gefragt, wenn ich noch vernünftig sprechen könnte.
Die Frau im Trainingsanzug schweigt, stattdessen zeigt sie in eine Richtung, der wir nun folgen. Friedhelm setzt sich in Bewegung, und mein Magen beginnt schlagartig, wieder zu pumpen.
Der Mann im Trainingsanzug und seine Margot schauen uns hinterher. Ich lasse mich nach hinten fallen, das Blut schießt mir in den Kopf, es lindert die Schmerzen. Ein wenig, immerhin.
»Da hinten ist ein Schild, Björn.«
Ich kann es nicht lesen, für mich steht alles auf dem Kopf.
»Scheint wirklich eine Praxis zu sein. Gott sei Dank.«
»Ja.«
»Tut’s noch weh?«
»Mhm …«
Dr. Nachtigall ist Ende 70, keiner dieser Ärzte, die sich irgendwo in der Wildnis niederlassen, um dort noch Karriere zu machen, mehr die Sorte Arzt, die auf den letzten Metern der medizinischen Berufung ohne Stress auskommen
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