Esel
gesagt, die Ohren …«
»Ich brauche einen Arzt.«
»Wo soll ich denn jetzt einen Arzt finden?«
Sabine meint es gut, die Frage hätte ebenso gut von mir stammen können. Hier einen Arzt zu finden ist unmöglich. Einen entlassenen Mörder, ja, das ist eine leichte Übung, aber einen Arzt, unweit von Plötzen am Niedersee? Unmöglich. Wenn das hier jemals gut ausgeht, werde ich höchstpersönlich dafür sorgen, dass sich eine Initiative zur Anwerbung von Landärzten bildet. Ich werde Lobbyarbeit bei der Bundesärztekammer machen, ich bin bereit, mein Lehrergehalt mit einem Landarzt zu teilen, wenn sich jetzt bloß jemand findet, der mich von diesen wahnsinnigen Schmerzen befreit.
»O Gott, das tut so weh.«
»Leg dich hin, da aufs Gras.«
Der Schmerz schießt durchs Gehirn, meldet eine Katastrophe unfassbaren Ausmaßes. Die Synapsen kommunizieren Schwellbereitschaft. Das Herz pumpt Unmengen von Blut in Körperbereiche, die für die Aufnahme solcher Mengen gar nicht vorgesehen sind.
»Du bist kreidebleich.«
Als ob ich das nicht selber wüsste. Wie soll ich auch noch eine gesunde Gesichtsfarbe haben, wenn das Blut vollständig unterhalb meines Bauchnabels für eine Volumenausdehnung sorgt, die einen implantierten Medizinball in meiner Hose vermuten lässt.
Ich lege mich hin, stehen kann ich eh nicht mehr. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch etwas kann. Mir wird schlecht, das kann ich noch, und wie.
Als ich mich in das sattgrüne Gras mattgrau übergebe, fühle ich mich einen Moment lang vom Schmerz befreit, als aber Inge nur einen kleinen Moment später sich über mein Erbrochenes hermacht wie über eine Ladung frischen Haferschleims, wird mir noch schlechter.
»O Björn, du tust mir so leid, was soll ich denn bloß machen?«
»Einen Arzt!«
Friedhelm schaut zu mir, als würde er darauf reagieren müssen. Aber er ist kein Arzt, er ist ein Täter. Wenn ich jemals wieder stehen kann, wird er mich kennenlernen. Doch werde ich jemals wieder stehen können? Vorstellen kann ich es mir nicht mehr.
»Wir müssen kühlen.«
»Ja, ja, schnell!«
»Aber womit?«
»Weiß ich doch nicht, such was! Schnell!«
Sabine schaut sich um. In der Uckermark gibt es bei jedem Quadratzentimeter einen See, eine Pfütze oder sonstige Ansammlungen von Wasser. Nur hier, kurz vor Plötzen, gibt es nichts, nur die Aussicht auf einen See, in dem Sabine heute noch schwimmen will. Tolle Aussicht. Was soll ich damit. Ich brauche Kühlung. Jetzt!
Die Schmerzen lassen nicht nach. Es muss etwas passiert sein, das einen normalen Tritt in den Unterleib deutlich in den Schatten stellt. Hier ist etwas passiert, das Konsequenzen haben wird. Schlimme Konsequenzen.
Aua! Aua! Aua!
»Björn?«
Sabines Stimme ist jetzt sehr leise.
»Björn?«
Sie wird immer leiser.
»Björn.«
Verdammt, ich höre sie kaum noch.
»Björn?«
25. Plötzen und die Tunica Albuginea
Das kleine Dorf am Niedersee hat bestimmt schon eine ganze Menge erlebt – die von Arnims, als Vertreter der deutschen Romantik, die Russen, als Vertreter der Siegermächte, die Polen, als freundliche Repräsentanten des Nachbarlandes, FDJ -Aktivisten mit Zeltstangen und Treuhand-Diplomaten mit An- und Verkaufsabsichten, aber einen Gymnasiallehrer, der, mit dem Rücken auf einem Esel liegend, über die nur halbasphaltierte Dorfstraße geführt wird, so was hat Plötzen bestimmt noch nie gesehen.
Ich weiß nicht, wovon mir übler wird, von dem Geschaukel, das Friedhelm verursacht, oder von dem Schmerz, der immer noch in meinem Körper wütet.
»Geht’s noch?«, will Sabine wissen.
»Sabine, bitte.«
»Ich frag’ ja nur … hier gibt es bestimmt einen Arzt. Jetzt wird alles gut.«
Lüge! Aber nett gemeint, ich weiß. Hier wird nie etwas gut, hier gelingt es noch nicht mal, die Straße vollständig zu asphaltieren, wie soll dann alles gut werden. Ich bin ungerecht, aber ich habe Schmerzen, das entschuldigt alles.
»Tut’s noch weh?«
Was für eine Frage. Wenn ich dir nicht so dankbar sein müsste, weil du mich aus diesem Fichtennadel-Gulag in die Zivilisation geschleppt hast, dann würde ich jetzt …
»Keine Angst, gleich geht’s dir besser.«
Natürlich. Gleich. Ganz bestimmt.
Ich richte mich auf, so gut es geht, und schaue direkt in die Augen eines alten Mannes, der vor seinem Haus steht und sich nicht ganz sicher ist, was er von mir halten soll. Der Mann in dem blassgelben Trainingsanzug dreht sich nach hinten, um weitere Zeugen meiner Einwanderung zu
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