Eselsmilch
gefehlt
hat«, sagte Fanni. »Doch das hat uns auch nicht weitergebracht. Schier jeder
ist mal zur Toilette gegangen.«
»Aber
der Kerl – der Übeltäter müsste für längere Zeit weg gewesen sein«, gab
Olga zu bedenken.
»Melanie …«,
begann Fanni.
Olga
unterbrach sie. »Ja, Melanie war gleich anfangs mindestens fünfzehn Minuten
draußen. In der Zeit hat mir nämlich Dieter Horn bis in jede Einzelheit
geschildert, wie er letztes Jahr den Großglockner bestiegen hat.« Sie dachte
einen Moment lang nach. »Ich selbst bin zwischen Tajine und Nachtisch
hinausgegangen. Auf dem Weg hinunter ist mir Gisela entgegengekommen und auf
dem Weg zurück Dora zusammen mit Elke.«
Olga
kniff die Augen ein wenig zusammen, als studiere sie ein Bild. »Als ich die
Schuhe oben wieder ausgezogen habe, ist mir aufgefallen, dass Ottos
Quadratlatschen, die zuvor neben meinen Schuhen standen, nicht mehr da waren.
Aber Otto habe ich nirgends gesehen.«
Sie
verhielt den Schritt und legte Fanni die Hand auf den Arm. »Ich habe Otto
danach auch im Speiseraum nicht mehr gesehen! Hubert hat später noch seinen
Nachtisch aufgegessen. Erinnerst du dich nicht? Wiebke hat gefragt, wer den
Flockenkuchen haben will, und Hubert ist Bernd zuvorgekommen.«
Auf
einmal war der Weg so schmal geworden, dass Olga nun vor Fanni laufen musste.
Deshalb, und weil der Pfad jetzt auch steiler anstieg, wurde ihr Gespräch
unterbrochen. Schweigend stiefelten sie in einer Reihe dahin: Olga, Fanni und
Sprudel, der sich bisher – je nach Wegbreite – neben oder knapp
hinter den beiden Frauen gehalten hatte. Ein Stück vor ihnen ging Melanie, und
weit hinter ihnen dümpelten Gisela und Bernd herum.
Hassan
hatte mit einigen aus der Gruppe bereits die erste Serpentine bewältigt, eine
von vielen, die sie aus dem Tal, das sich an dieser Stelle zu einem V
verengt hatte, auf den Pass Tizi-n-Addi führen sollten.
Fanni
passierte soeben ein rechter Hand steil ansteigendes Kar, als sie das Rumpeln
hörte. Sie blickte hoch und sah mehrere Gesteinsbrocken herunterkommen. Ein
großer schlug auf einer Felskante auf und zersprang in drei Trümmer, die
angeregt weiterhüpften.
»Schnell!«,
rief Sprudel drängend.
Fanni
stolperte hastig vorwärts, obwohl sie genau wusste, dass sie dem Steinschlag
nicht entkommen konnte. Kleinere Bruchstücke prasselten bereits in eine schmale
Rinne, die sich ein Stück oberhalb von ihr, parallel des Wegs, entlangzog. Dort
blieben sie glücklicherweise stecken. Doch im nächsten Moment kollerten etliche
größere Brocken wenige Zentimeter vor Fannis Füßen (die sich unwillkürlich
weigerten, sich weiterzubewegen) über den Pfad und kamen vor der
gegenüberliegenden Felswand zu liegen.
Dann
war es still.
Hassan
schaute von der Kehre der zweiten Serpentine aus auf die Dreiergruppe hinunter
und wischte sich mit einem riesigen Taschentuch die Stirn. Er schien etwas
blass geworden zu sein.
»Das
hätte aber schlimm ausgehen können«, sagte Bernd, der gerade aufholte.
Erschrocken
eilte Fannis Blick über das Kar hinauf. Was, fragte sie sich, kann den
Steinhagel verursacht haben? Ein Tier? Eine instabile Erdschicht, die sich –
aus keinem anderen Grund, als dass der Zeitpunkt dafür gekommen war –
gelöst hatte? Ein Mensch? Ein Mensch mit Mordgedanken, der dort
hinaufgeklettert war und die Felsbrocken losgetreten hatte?
Sie
wandte die Augen vom Kar ab und sah in die Runde. Dabei bemerkte sie, dass auch
Olga und Sprudel die Blicke schweifen ließen, als würden sie nach jemandem
suchen.
Wir
drei suchen nach einem, der fehlt, dachte Fanni.
Aber
die Gruppe war vollzählig.
Es
muss Zufall gewesen sein! Ein böser, schier unglaublicher Zufall! Aber trotzdem
ein Zufall!
Fanni
beobachtete, wie Olga vor sich hin nickte, als wolle sie sich selbst etwas
bestätigen. Und sie fragte sich, ob auch die Klein-Bäuerin von Zeit zu Zeit mit
einer Gedankenstimme kommunizierte, die ihr soeben versichert hatte, dass der
Steinschlag nicht vorsätzlich ausgelöst worden war.
»Weiter
jetzt«, rief Hassan. »Und dicht aufschließen. Wir müssen schnellstens aus dem
Kessel heraus, falls noch mehr Steine über den Hang herunterkommen.«
Eine
halbe Stunde später erreichten sie die Passhöhe. Wiebke und Antje ließen sich
schwer atmend auf eine halb verrottete Holzplanke fallen, die vermutlich einmal
zu dem Unterstand gehört hatte, der nun als Müllhaufen auf dem kleinen Plateau
lag. Selbst Elkes Atem ging schneller. Huberts Gesicht leuchtete
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