Eskandar: Roman (German Edition)
und ohne Verluste die heilige Stadt zurückerobert.
Warum ist Qom heilig?, fragen die Männer.
Weil hier die heilige Massume begraben liegt.
Wer ist die heilige Massume?, fragen die Männer zurück.
Sie ist die Schwester des heiligen achten Emam der Schiiten, Emam-Resa, ruft Eskandar. Und genau hier habt ihr die Regierungstruppen, die gottlosen Russi und Engelissi bezwungen.
Eskandar macht eine Pause und ruft: Das ist ein Zeichen Gottes. Wie er es vom Mullah gelernt hat, deutet er mit ausgestrecktem Arm in die Ebene. Seht euch um, sagt er, die Wüste ist ein Meer von tapferen Kriegern, die um ihre Feuer versammelt sind, ihren Erfolg feiern und wissen, dass sie auch aus dem Kampf um die Hauptstadt als Sieger hervorgehen werden.
Trotzdem wird es in den nächsten Tagen schwieriger für Eskandar, die Männer bei Laune zu halten und zu weiteren Kämpfen zu ermutigen, denn die Kundschafter aus der Hauptstadt bringen nichts als schlechte Nachrichten: Die Russen haben die Zeitungshäuser geschlossen, das neu gegründete Postamt besetzt und eine Ausgangssperre verhängt. In den Straßen, im Basar, in der gesamten Hauptstadt gibt es blutige Gefechte und Schießereien. Menschen werden verletzt und sogar getötet.
Wie gehabt werden allen voran wieder die Mitglieder des Parlaments und ihre Anhänger verfolgt. Viele sind untergetaucht oder bereits auf dem Weg ins Ausland, in den Libanon, nach Kerbala oder sonst wohin. Die Kundschafter berichten, die Russen hätten aus allen Richtungen Truppen zusammengezogen und würden die Freiheitskämpfer bereits erwarten.
Jetzt kannst du lernen, wie Politik gemacht wird, sagt der Mullah lachend. In Wahrheit erweisen die Russen uns nämlich mit ihrem Vorgehen sogar einen Gefallen. Sie lassen den Leuten keine andere Wahl, als sich patriotisch auf unsere Seite zu schlagen.
Palang-Khan ist nicht oft der gleichen Meinung wie der Mullah, doch jetzt stimmt er ihm zu. Das Volk wird sich uns anschließen, sagt er lächelnd, und das, obwohl sie keine Ahnung haben, was eine Verfassung oder ein Parlament, Nationalisten oder Freiheitskämpfer sind.
In Teheran kann Eskandar mit eigenen Augen sehen, wie recht Palang-Khan und der Mullah haben. Als nämlich die Truppen der Freiheitskämpfer durch die Tore der Hauptstadt reiten, ist es wie in Esfahan und wie auf ihrem Feldzug durch andere Städte, die sie auf dem Weg nach Teheran erobert haben. Die Nationalisten werden bereits erwartet und als Befreier bejubelt.
Eskandar wünscht sich, er würde nicht auf einem Esel, sondern wie damals in Esfahan auf einem prächtig geschmückten Pferd in die Stadt einreiten; und er stellt sich vor, er wäre kein Junge, sondern ein Soldat, ein Nationalist, der, statt dem Mullah den Koran hinterherzutragen, eine Waffe hat und damit in den Kampf zieht.
Gleich hinter den Toren der Stadt machen der Mullah, der Morsched, ein paar Musikanten, zwei Schreiber und Eskandar halt, trommeln die Männer zusammen und beginnen sofort die Namen der Freiwilligen, Helfer, Köche, Hakim und wer sonst noch für den Kampf von Nutzen sein könnte, aufzuschreiben. Manche Freiwillige sind im Besitz von Waffen und ziehen gleich in die Schlacht. Andere müssen zunächst mit Kleidung und Essen versorgt werden, weil der Hunger sie zu ausgezehrten Gestalten gemacht hat, die nichts tragen als Lumpen.
Währenddessen kämpfen am anderen Ende der Stadt Reiter und Freiwillige, Bauern und Männer aus dem einfachen Volk, Hodjat und seine Freunde und sogar der eine oder andere Mullah gegen die russischen Besatzer und die Truppen des Königs und seine Leibgarde, die Kosakenbrigade. Die Nationalisten und Freiheitskämpfer nehmen einen Straßenzug nach dem anderen ein, erringen einen Sieg nach dem anderen, und das, obwohl die Besatzer mit ausgebildeten Soldaten kämpfen. Sie haben die besseren Waffen, die fortschrittlichere Technik, die richtige Kriegsstrategie, die besseren Uniformen und Pferde sowie die bessere Verpflegung. Sie werden geführt von einem der fähigsten Offiziere der russischen Armee, dem berüchtigten Oberst Ljachow. Demselben, der Befehl gegeben hatte, die Kanonen auf das Parlament zu richten.
Trotzdem kann Eskandar bereits nach wenigen Tagen im Basar und auf den Plätzen der Stadt im Wechsel mit Versen aus dem Koran die freudige Nachricht verkünden: Der schreckliche Colonel Ljachow hat den Schwanz eingezogen. Wie eine Maus, die sich in ihr Loch verkriecht, hat er sich in die Kaserne im Zentrum der Stadt geflüchtet und dort
Weitere Kostenlose Bücher