Eskandar: Roman (German Edition)
eingenistet. Und jetzt wollen sie auch noch, dass wir sie dafür bezahlen, dass sie unser Blut aussaugen. Als Nächstes werden sie von uns verlangen, dass wir sie in unser Abendgebet einschließen, ruft Eskandar und grinst breit: Zähne zusammen, Lippen weit auseinander.
Junge, woher hast du das?, fährt der Mullah ihn an und zieht sein Ohr lang.
Von mir, antwortet der Tiger zufrieden mit sich und dem Jungen. Und weil er heute seine Aufgabe besonders gut erledigt hat, wird er zur Belohnung an meinem Feuer sitzen und seine Lieblingsspeise bekommen. Sprich, Junge, wonach ist dir zumute?, fragt der Khan.
Frisches Fladenbrot mit in Butter gebratenen Eiern, sagt Eskandar glücklich, und das Wasser läuft ihm im Mund zusammen.
Eskandar und seine neuen Aufgaben
Als die Kämpfe abflauen, kehrt die Mehrheit der Leibeigenen, Bauern, Reiter, Köche und Bediensteten wieder in ihre Dörfer und zu ihren Familien zurück. Und Eskandars Stimme und Talent als Märchen erzähler werden nicht mehr gebraucht. Also schickt Palang-Khan ihn zu seinem Anwesen nach Teheran, wo er sich dem Mobasher, dem Verwalter, als Diener unterstellen soll.
Agha-Mobasher ist ein alter, ernster, von allen respektierter Mann, der stets darauf bedacht ist, mit geradem Rücken, sauberer Kleidung und makellos geputzten Farangi-Schuhen durch die Welt zu gehen. Eine Welt, die für ihn nicht mehr und nicht weniger ist als das Anwesen seines Herrn. Agha-Mobasher spricht gerne und wählt seine Worte mit Bedacht.
Eskandar durchschaut ihn gleich bei ihrer ersten Begegnung. Der Alte tut streng, ist im Grunde aber sanft und weich und will niemandem Böses. Selbst wenn er Eskandar tadelt oder zurechtweist, tätschelt Agha-Mobasher ihm liebevoll den Kopf und sieht ihn mit gütigen Augen an. Eskandar kommt schnell dahinter, die Strenge des Mobasher ist lediglich eine Tarnung, damit die Leute ihn nicht für schwach halten und ihm auf der Nase herumtanzen.
Wie Agha-Mobasher und alle anderen, Frauen und Männer, Jungen und Mädchen, die im Dienst des Palang-Khan oder seiner Ehefrauen stehen, lebt auch Eskandar fortan auf dem von hohen und endlos langen Mauern umgebenen Anwesen des Tigers. Das Grundstück ist so groß, dass man vom einen Ende des Parks das andere nicht sieht, womit es drei- oder viermal größer ist als das Dorf ohne Namen, aus dem Eskandar kommt. Es gibt so viele Plätze, Gärten, Wege und Pavillons, dass Eskandar sich noch eine ganze Weile darin verläuft. Es dauert lange, bevor er alles kennt, die vielen Gebäude, große und kleine Stallungen, Häuser für Gäste, überdachte Plätze mit und ohne halbhohe Mauern, Unterkünfte für die Bediensteten, Lagerräume, eine kleine Moschee, eine Kaserne, Wasserdepots unter und über der Erde, Bäume, Blumen, Büsche, Hunde, Katzen, Vögel, Schlangen, Hasen, Affen, Rehe und schließlich und tatsächlich die beiden ausgewachsenen Tiger, von denen der Khan bereits erzählt hat. So viele Kinder, Frauen, Männer, Bedienstete, Reiter, Wächter, Gärtner und Köche leben auf dem Besitz des Palang-Khan, dass keiner weiß, wie viele es sind, und Eskandar jeden Tag unbekannte Menschen trifft.
Palang-Khan selbst lebt im größten Palast. Vier Stufen führen auf eine große, mit Sofas, Stühlen, Tischen, Teppichen, Sitzpolstern und Kissen ausgestattete Terrasse. Von hier aus tritt man durch verglaste Flügeltüren in einen riesigen Salon. Die Wände sind verziert mit Spiegeln, Malereien, Steinen und sogar Gold. Zahlreiche Türen führen in den Rest des Hauses, in das Arbeitszimmer, die Bibliothek und das Raucherzimmer. Im großen Farangi-Esszimmer steht ein endlos langer Tisch aus dunklem, schwerem Holz mit ungezählten Stühlen darum. Hier lässt Palang-Khan seine ausländischen Gäste bewirten. Direkt daneben befindet sich das eigentliche Esszimmer, in dem der Hausherr seine iranischen Gäste empfängt. Unter den niedrigen Fenstern liegen Kissen und Sitzpolster; gegessen wird nach persischer Art auf dem Boden und von ausgebreiteten Tischdecken. Manchmal werden die Türen zwischen den beiden Esszimmern zur Seite geschoben, sodass hunderte Gäste in einem riesigen Raum Platz finden.
Das Haupthaus ist Männern und Jungen vorbehalten. Wenn der Tiger das Bedürfnis hat, eine seiner acht oder mehr Frauen und seine Töchter zu besuchen, mit ihnen zu essen, die Nacht zu verbringen, oder die Frauen Gäste haben, die Palang-Khan sehen möchte, besucht er die jeweilige Frau in ihrem jeweiligen eigenen Haus im Bereich, der
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