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Eskandar: Roman (German Edition)

Eskandar: Roman (German Edition)

Titel: Eskandar: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siba Shakib
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ärgert sich über seine eigene Unbedachtheit.
    Verehrter Agha, mit Verlaub, der Mullah sagt, mit meinen zwölf oder vierzehn Jahren bin ich ein halber Mann.
    Der Mullah ist ein Dummkopf, schimpft Agha-Mobasher und beauftragt einen erwachsenen Diener mit der Aufgabe. Eskandar befiehlt er, die Angelegenheit gänzlich aus seinem Gedächtnis zu streichen und niemals ein Wort darüber zu verlieren.
    Ihr Wunsch ist mir Befehl, sagt Eskandar, gehorcht und versucht die Sache mit den Tänzern zu vergessen. Doch je mehr er versucht, nicht daran zu denken, desto mehr muss er es tun. Bis er nach ein paar Tagen ganz hinten im Basar, da, wo die wenigsten jemals hinkommen, angezogen von Klopfen und Hämmern, etwas so Trauriges und Erschreckendes entdeckt, dass er endlich aufhören kann, andauernd an die hübschen männlichen Tänzer denken zu müssen.
    In einer dunklen Passage hocken zwanzig, dreißig kleine Jungen in Reihen an Tischen und klopfen alte Nägel wieder gerade. Ihre Finger sind schwarz, blau, grün und blutig. Ihre Nasen laufen, sie kratzen sich Schorf vom Kopf, bis es blutet. Die Larve der Sandfliege ernährt sich von ihrer Haut, kleine Hautfetzen hängen wie Läppchen an ihren schmutzigen, verkrusteten Gesichtern. Ihre Kleidung besteht aus Lumpen, manche haben nicht mehr als den Schritt bedeckt. Ihre Haut ist dünn wie Pergament, und Eskandar kann ihre Rippen zählen.
    Ab jetzt kommt Eskandar, so oft er kann, in diesen Teil des Basar, bringt Brot, Reste seines Essens, sein Trinkgeld und was er sonst noch von dem wenigen, was er selber besitzt, entbehren kann für die Jungen.
    Einmal erwischt der alte Verwalter Eskandar dabei, wie er die abgetragenen Kleider, die er von seiner Herrschaft bekommt, eilig in die Eseltaschen verstaut. Weil der Verwalter ihm nicht glaubt, dass er die Sachen nicht verkaufen und sich daran bereichern will, sondern vorhat, sie armen Jungen im Basar zu schenken, begleitet er ihn und ist entsetzt, als er die Lumpenkinder sieht.
    Dass es unter Gottes Himmel und in meinem Land derartige Armut gibt, hätte ich niemals für möglich gehalten. Der Verwalter legt seinen Arm um Eskandars Schulter und sagt: Wer Gutes tut, dem tut Allah Gutes. Dann gibt er Eskandar alle Münzen, die er dabeihat, damit er den Jungen Brot und frisches Trinkwasser kaufen kann.
    Draußen auf der Straße, zwischen den Menschen, Pferden, Droschken, Kamelen, rufenden und singenden Händlern, wünscht Eskandar, der Verwalter hätte die traurigen Jungen im dunklen Teil des Basars nicht gesehen. Bisher sind sie nur eine von seinen nicht erzählten Geschichten gewesen, als würden die Jungen nicht wirklich, sondern nur in seinem Kopf existieren. Jetzt aber sind sie ans Licht seines täglichen Lebens geholt worden. Er weiß, dass er nicht mehr aufhören kann, an ihre dürren Köper und müden, alten Augen und den Geruch von Hunger zu denken, den er nur zu gut aus seinem eigenen Leben im Dorf ohne Namen kennt. Angewidert wendet Eskandar sich ab, muss würgen, weil der Geschmack von Rattenfleisch in seinen Mund kommt.
    Als Zeichen seiner Dankbarkeit und damit er nie wieder Hunger leiden muss, macht Eskandar am Eingang des Basars ein Nasr und gibt dem Jungen, der auf seinen Esel aufgepasst hat, eine zusätzliche Münze und das süße Gebäck, das er eigentlich Roxana mitbringen wollte.
    Danke, mein Agha, mögen Sie gesund bleiben, sagt der Eselshüter.
    Verehrter Eselhüter, ich danke dir, sagt Eskandar. Ich werde dich für den Rest meines Lebens nicht vergessen, denn du bist der erste Mensch, der mich Agha genannt hat.

1915, Mahrokh-Khanum und die ersten Heimlichkeiten
     
    Zwei oder drei Jahre später gibt es niemanden mehr, der ihn nur mit Eskandar anspricht. Alle hängen ein Agha entweder vor oder hinter seinen Namen. Herr-Eskandar, was hast du uns heute aus dem Basar mitgebracht?, fragen die Töchter und Frauen des Tigers. Eskandar-Agha, hier sind ein paar abgetragene Hosen und Hemden für deine Jungen aus dem dunklen Teil des Basars. Agha-Eskandar, die jüngeren Söhne des Palang-Khan bräuchten mal wieder eine saubere Kopfrasur, aber bitte mit anschließender Desinfektion mit Mercucrom, damit ihre Köpfe sich nicht entzünden.
    Roxana ist die Einzige, die ihn noch immer nur Eskandar ruft. Dabei sieht sie in ihm längst wie alle anderen nur einen Diener, der ihr unterstellt ist und dafür da ist, Tag und Nacht bereit zu sein, ihre Befehle auszuführen und ihr das Leben angenehmer zu machen.
    Manchmal versetzt es Eskandar einen

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