Essen kann jeder
exotischen und befremdlichen Verirrung der menschlichen Seele. Denn während bei den klassischen Essstörungen wie Fett- oder Mager sucht die Menge der verzehrten Nahrung im Blickpunkt steht, geht es bei der Orthorexie um die Qualität des Essens. Menschen, die an diesem Krankheitsbild leiden, haben eine ausgeprägte Fixierung auf alles, was als gesund gilt, und eine panische Abscheu vor allem, was das Kainsmal des Ungesunden trägt. Das heißt, bestimmte Fette wie Omega-3-Fettsäuren, komplexe Kohlenhydrate und Ballaststoffe gelten als gut und heilbringend. Tierische Fette, Zucker und Alkohol gelten als böse und unrein. Industrieprodukte, Fertignahrung und Kantinenfraß sind sowieso die Speisen der Verdammnis.
Jetzt sagen Sie vielleicht: Das klingt doch ganz vernünftig. Mag sein. Aber beim Orthorektiker wird das Ding mit dem gesunden Essen irgendwann zur fixen Idee. Es stellen sich eigenartige Marotten und Schrullen ein. »Sie essen Rohkost, ganz bestimmte biologische Lebensmittel, ganz bestimmte Salze und Gemüse, das nur bei Vollmond gepflückt sein darf«, weiß An dreas Schnebel von der Münchner Beratungsstelle für Essstö rungen zu berichten. Außerdem halten Orthorektiker sich an jede wissenschaftliche Empfehlung wie an ein Gebot, das ihnen ein brennender Dornbusch zugeflüstert hat. Orthorektiker investieren eine absurde Menge an Zeit in die Zusammenstellung ihrer Mahlzeiten. Stundenlang werden Nährwerte, Mineralstoffe und Vitamingehalte der jeweiligen Lebensmittel errechnet. Jeder Gang zum Supermarkt wird gründlicher geplant als eine Expedition zum Südpol. Die Ernährung wird für die Betroffenen schleichend zum hauptsächlichen Lebensinhalt. Sie sind besessen vom Essen.
Diese Gesundesser geraten oft in schwere Konflikte mit ihrer Umwelt. Viele können zum Beispiel ihren Lebenspartner nicht mehr küssen, wenn etwas Ungesundes seine Lippen berührt hat. Ich will zugeben, dass Mundgeruch ein echter Liebestöter sein kann, doch seien wir ehrlich, wahre Leidenschaft kann auch eine Portion Grünkohl mit Rindswurst nicht stoppen. Irgendwann nehmen Orthorektiker an keiner gemeinsamen Mahlzeit mehr teil, denn sie können nichts mehr essen, was andere gekocht haben. Sie müssen alles selbst zubereiten. Einen Orthorektiker zum Essen einzuladen ist wie eine offene Morddrohung. Natürlich könnte man sich auch vom Orthorektiker bekochen lassen. Doch mondbeschienene Rohkost mit entmineralisiertem Wasser ist nicht gerade, was sich ein Normalesser unter einem Dinnerabend vorstellt. Außerdem: Je gesünder sich Orthorektiker ernähren, umso schwerer verdaulich wird ihre Gegenwart. Sie entwickeln einen geradezu missionarischen Eifer und foltern ungläubige Tischgenossen mit wüsten Hasstiraden über die verbrecherischen Machenschaften der Lebensmittelindustrie. Die Folge ist eine zunehmende Vereinsamung der Betroffenen.
Bleibt die Orthorexie ein rein psychisches Problem, kann dem Patienten durch psychotherapeutische Maßnahmen gut geholfen werden. Doch manchmal zeigen sich auch körperliche Konsequenzen der Krankheit. Die Patienten magern ab und entwickeln schwere Mangelerscheinungen. In ganz extremen Fällen wird aus der Orthorexie eine Bulimie. Der Versuch, sich gesund zu ernähren, kann schließlich tödlich enden.
Man fragt sich: Wie kann so etwas geschehen? Steve Bratman, der Erstbeschreiber, hat eine sehr interessante Erklärung für die Motivation der Gesundesser: »Jemand, der den ganzen Tag damit verbringt, nur Tofu und Quinoa-Kekse zu essen, kann sich so heilig fühlen wie jemand, der sein ganzes Leben den Obdachlosen gewidmet hat.« Das würde heißen, dass Essen diesen Menschen gar nicht mehr zur Ernährung dient. Essen gibt ihrem Leben seinen eigentlichen Sinn. Eine ähnliche These vertritt der Kölner Psychologe und Theologe Manfred Lütz. Er meint, dass die Gesundheit heute an die Stelle der Religion getreten ist. Die Menschen beteten heute nicht mehr Gott an oder eine andere transzendente Wesenheit. Auf dem Altar seiner Verehrung stehe heute die eigene körperliche Unversehrtheit.
Religiöse Begriffe werden heute zunehmend in Zusammenhang mit der Gesundheit gebraucht. Wenn jemand sagt: »Jetzt habe ich aber gesündigt«, hat er wahrscheinlich nicht seines Nächsten Weib begehrt, sondern nur lediglich eine Schweinehaxe mit drei Extraknödeln verputzt. Wenn wir überhaupt noch die Knie beugen, dann bei der Gymnastik. Statt Marienkult betreiben wir Körperkult. Es gibt sogar Ernährungspäpste, die
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