Essen kann jeder
ihre Heilsbotschaften wie Erzengel in die Welt posaunen.
Der überzogene Wert medizinischen Wohlergehens spiegelt sich allein in dem Satz wider: Gesundheit ist das höchste Gut. Das ist natürlich auch totaler Quatsch! Seit wann ist Gesundheit das höchste Gut der menschlichen Existenz? In der ganzen griechischen Philosophie ist im Zusammenhang von menschlichen Gütern nie von der Gesundheit die Rede. Es ist nicht eine einzige Diättabelle von Sokrates überliefert. Von den römischen Denkern ist zu dem Thema auch wenig bekannt. Horaz forderte: Carpe diem. Pflücke den Tag. Nicht: pflücke das Salatblatt oder den Weizenkeimling.
Früher haben die Menschen die höchsten Dinge des Lebens in geistigen Sphären gesucht. Um dorthin zu gelangen, musste man sogar eine gewisse Leibfeindlichkeit demonstrieren. Die mittelalterlichen Mystiker haben sich mit Ruten gegeißelt, jahrelang in feuchten Keller gehockt und wochenlang gehungert, um den Geist zu reinigen. Den Lohn für diese Qualen erhielt man erst im Paradies. Wenn die Menschen heute ihren Körper peinigen, dann im Fitnessstudio. Doch da tummeln sich Gesundheitsjünger, die überhaupt nicht mehr in den Himmel kommen wollen. Und wenn, dann möglichst spät. Wie in jeder Religion, gibt es auch unter den Gesundheitsaposteln Fanatiker, heilige Krieger und Inquisitoren. Es gibt sogar Selbstmordattentäter, die sich in ihrem glühenden Eifer nach Gesundheit umbringen. Womit wir wieder bei den Orthorektikern wären.
Es ist eigenartig: Warum fallen wir Menschen so gerne ins Extrem? Warum wird jede gute Idee irgendwann zu Ideologie, dann zu Dogmatismus und zum Schluss zu Wahnsinn?
Vielleicht ist es die menschliche Resignation vor der einfachen Wahrheit, dass es keine einfache Wahrheit gibt? Nicht mal beim Essen. Denn auch Ernährungstipps haben eine sehr frustrierende Eigenschaft: Je konkreter sie ausfallen, umso mehr Ausnahmen und Extraregeln müssen aufgestellt werden, damit sie auch wirklich auf alle und jeden zutreffen. Wenn ein Ratschlag in seiner Weisheit völlig unanfechtbar ist und das ganze Leben in seiner universellen Ganzheit einschließt, ist er meist so schwammig, dass seine Anwendung im praktischen Leben völlig unbrauchbar ist. Und wenn die Empfehlung so formuliert wurde, dass sie beides ist, also exakt und allgemeingültig, dann ist sie meistens auch noch etwas Drittes, nämlich falsch.
Wer kann uns also helfen, das rechte Maß im Auge zu behalten? Für mich als Kabarettisten ist der Fall klar: der Humor. Wer über sich selbst lachen kann, hat die Fähigkeit, lieb gewonnene Vorstellungen über Bord zu werfen, noch nicht verloren und macht sich nicht zum Sklaven seiner eigenen Überzeugung. Viel leicht ist das der wichtigste Ernährungstipp von allen: Wenn Sie den Spaß am Essen verlieren, dann sollten Sie sich wirklich Sorgen machen!
5 GENUG IS(S)T GENUG!
Die Zerealienabteilung. Bis unter die Decke türmen sich die Kartons. Sie tragen lustige Namen wie Flakes, Snacks, Krispies, Crunchies, Poppies, Shreddies, Clusters, Loops, Minis und natürlich Chocos.
»Schau dir das an, Sanne: Selen, Zinn, Zink, Magnesium, Jod, Fluor, Eisen … Das sind keine Frühstücksflocken, das ist ein essbares Periodensystem.«
»Warum heißt es eigentlich Spurenelemente, wenn jedes Lebensmittel damit angereichert ist, als wolle man es im Kernreaktor verbrennen?«
»Am schlimmsten ist Calcium. Überall ist heute Calcium drin. Ich nehme mittlerweile so viel Calcium zu mir, dass sich kleine Tropfsteine in der Kloschüssel bilden!«
»Aber der Mensch braucht doch Vitamine und Spurenelemente! Oder sind das auch Erfindungen der Lebensmittelindustrie?«
»Natürlich brauchen wir das Zeug, aber nicht in diesen absurden Mengen. Nehmen wir Vitamin C. Überall ist heute Vitamin C drin. Aspirin plus C. Fruchtsaft plus C …«
»Hier ist sogar o. b. plus C!«
»Du willst mich verarschen, Sanne?«
»Ja!«
Vitaminhaltige Grausamkeiten
Vitamin C ist ja die universale Allzweckwaffe der Deutschen gegen jede Form von menschlichen Gebrechen. Vor allem im Herbst, wenn die Zeit der schniefenden Nasen und kratzenden Hälse beginnt, wenn sich die Schleimhäute verflüssigen, Nebenhöhlen überflutet werden und Viren und Bazillen zum Rhythmus des Hustens Freudentänze in den Atemwegen aufführen. Als Kabarettist bin ich ja für jede Form von mikrobiologischen Infektionen besonders anfällig. Jeden Abend sitzt vor mir eine geifernde Meute von Bazillenschleudern. Erst prusten sie ihren Auswurf
Weitere Kostenlose Bücher