Essen kann jeder
in die Luft und dann wedeln sie diesen Nebel des Grauens mittels Applaus in meine Richtung. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich liebe mein Publikum! Aber oft würde ich gerne rufen: »Hören Sie auf! Ihr Lachen bringt mich um!« Kein Wunder, dass ich nach jeder Vorstellung von der Bühne halb tot ins Bett krieche.
Und da hilft nur eins. Vitamin C! Auf jeden Fall nach der Ansicht meiner Freundin. Spätestens Anfang Oktober werde ich vollgepumpt mit Zitronenwasser, Hagebuttentee, Grünkohlsuppe, Sauerkrautsaft … Ja. Sauerkrautsaft! Ich habe immer gedacht, das sei ein Mittel der Selbstkasteiung für bußfertige Katholiken. Weniger bekannt war mir, dass das Zeug auch gesund sein soll. Dem Drogeristen meiner Freundin aber leider schon. Doch Sauerkrautsaft belegt nur Platz 2 auf der Liste Vitamin-C-haltiger Folterinstrumente. Unangefochtener Spitzenreiter ist und bleibt: der Zwiebelsud. Dafür werden rohe Zwiebeln mit Wasser und Zucker aufgekocht und dem Lebenspartner unter Androhung von Sexentzug in den röchelnden Rachen geschüttet. Aber es wirkt! Der einsetzende Brechreiz ist so stark, dass einem die laufende Nase mit einem Schlag völlig egal ist.
Volksseuche Skorbut
Ich hab meinen Arzt gefragt: »Herr Doktor, hilft diese ganze Vitamin-C-Fresserei überhaupt bei Erkältung?« Hat er gesagt: »Nein!« Hab ich gesagt: »Gegen was ist dann Vitamin C gut?« Da hat er gesagt: »Gegen Skorbut.« Skorbut? Wer bin ich? Klaus Störtebeker? Habe ich was verpasst? Ist der Skorbut wieder auf dem Vormarsch? Dicht gefolgt von der Pest und der Syphilis? Zumal er mir noch erklärt hat, dass zu hohe Vitamin-C-Dosen gar keinen Sinn ergeben, weil ein Mensch am Tag nur ungefähr 100 mg Ascorbinsäure aufnehmen kann. Den Rest pinkelt er einfach wieder raus. Zusammen mit der Folsäure und dem Biotin. Früher war der Rhein eine Drecksbrühe, heute eher so eine Art Multivitaminsaft.
Niemand weiß offensichtlich genau, wie viel Vitamin C der Mensch eigentlich braucht. Der Westdeutsche benötigte nach allgemeiner Gesundheitsempfehlung im Jahr 1989 offenbar 75 mg täglich zum Überleben. Der Ostdeutsche brauchte zu dieser Zeit nur staatlich verordnete 45 mg. Also 30 mg weniger. Das stand zwar so nicht bei Karl Marx, war aber ein sicheres Zeichen für die Überlegenheit des real existierenden Sozialismus. Zwei Jahre nach dem Mauerfall stieg der gesamtdeutsche Vitamin-C-Bedarf sprunghaft auf 125 mg am Tag. Die Wiedervereinigung scheint dem Deutschen ordentlich an die Nieren gegangen zu sein. In Wirklichkeit reichen dem Körper wohl 5 bis 10 mg Vitamin C. Aber dafür braucht man keinen Sauerkrautsaft zu trinken, da kann man auch einfach eine Bockwurst futtern. Denn Ascorbinsäure ist in der Lebensmittelchemie ein wichtiges Konservierungsmittel. Es wird eingesetzt, um Fleischwaren ein schönes, gesundes Rot zu geben. Ascorbinsäure ist so eine Art Make-up für Wursthaut. Sprich: Jeder Landjäger ist im Grunde so wertvoll wie eine kleine Kiwi.
Und hat man sich dann mit Vitamin C abgefüllt, bis man sich auch fühlt wie eine Zitrone – irre gesund, aber auch sehr sauer –, da wird schon ein anderer lebenswichtiger Stoff ins Zentrum der Aufmerksamkeit des Verbrauchers gerückt. Der sich dann in Windeseile in speziell designten Nahrungsmitteln wiederfindet. Lebensmittel sind heute wie Moden: In diesem Herbst geht der Trend weg von den schweren Ballaststoffen hin zu frischen Mineralstoffen, welche die gesundheitsbewusste Frau mit einer gewagten Kombination von Folsäure und ungesättigten Fettsäuren zu sich nimmt.
Essen wie die Eskimos
Am erstaunlichsten finde ich die abenteuerlichen Geschichten, mit denen diese Produkte dem Kunden schmackhaft gemacht werden. Der größte Knaller ist der Verkaufsmythos von Omega-3-Fettsäuren. In Internetanzeigen kann man heute noch lesen, dass dieser Wunderstoff für die mustergültigen Blutgefäße der Eskimos verantwortlich sein soll. Denn anscheinend bekommen diese Polarbewohner weniger Herzinfarkt. Und warum? Die Antwort ist ganz einfach. Eskimos essen viel Fisch. Fisch enthält viel Omega-3-Fettsäuren. Ergo sind Omega-3-Fettsäuren gut ge gen Herzinfarkt. Deswegen sollen wir auch viel Meerestiere essen oder am besten direkt Omega-3-Fettsäuren. Die gibt es nämlich schon in Form von Ölkapseln, die aus Fischabfällen gewonnen werden. Wir sehen, mit der richtigen Verkaufsgeschichte kann man auch aus Müll Gesundheitspillen drehen. Was ist aber, wenn ich keinen Fisch mag? Auch das kein Problem.
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