Essen mit Freunden - Roman
nicht. Sie würden eines der Kinderzimmer im ersten Stock behalten, wenn die Mädchen am Wochenende zu Besuch kämen. Dann war ihr Blick auf die Magneten am Kühlschrank gefallen, mit denen die Familienfotos festgemacht waren, und schlagartig hatte Luise ein schlechtes Gewissen gehabt. Trotzdem hätte sie Anne nie im Leben recht gegeben.
Ole parkte den Wagen an der Buchsbaumhecke. Ein gelbes Kinderrad mit Stützrädern lag umgekippt im Vorgarten, an der Haustür hing ein Namensschild aus bunter Modelliermasse: »Hier leben, lieben und spielen Lilly, Nele, Judith und Ole Borger-Brück«. Dieses Schild hing bei Luises letztem Besuch noch nicht. Sie rümpfte innerlich die Nase. Nur Kränze aus Salzteig fand sie noch schlimmer als das.
»Von meiner Mutter«, sagte Ole entschuldigend und deutete auf das Schild, als hätte er ihre Gedanken erraten. »Volkshochschule. Modellieren ist ihre neueste Leidenschaft. Manchmal wünschte ich, sie wäre bei ihrem Theaterabon
nement geblieben. Aber weil sie einmal die Woche kommt und auf die Kinder aufpasst, können wir es nicht einfach verschwinden lassen. Das würde sie uns übelnehmen. Ich hoffe nur, mein Vater fängt nicht noch mit Laubsägearbeiten oder so an.« Er verdrehte die Augen.
»Ja, Eltern sind manchmal komisch«, nickte Luise. Sie dachte kurz an ihre Mutter, mit der sie seit ihrem Ãberraschungsbesuch vor drei Wochen zwar so regelmäÃig wie immer telefonierte, das Thema Paul aber ausklammerte.
»Bleibt nur zu wünschen, dass unsere Kinder mal etwas anderes über uns sagen«, seufzte Ole und schloss die Tür auf.
Zweistimmiges Indianergebrüll empfing sie. Lilly preschte um die Ecke, ein grüner Streifen über der Nase, zwei rote auf den Wangen und eine blaue Feder im Stirnband.
»Markus ist da, Markus ist da«, krähte sie. Ohne Ole und Luise zu begrüÃen, schob sie ihre kleine Schwester, die ähnlich bunt aussah wie sie und ihr auf den Fersen gefolgt war, zur Seite und rannte zurück nach drinnen.
»Markus?«, murmelte Ole und blickte Lilly irritiert nach, »das ist unmöglich.«
»Bin Indianer«, sagte Nele, die immer noch im Türrahmen stand und stolz mit den Fingern über ihre Kriegsbemalung fuhr. Dann streckte sie Ole ihre verschmierten Hände entgegen, damit er sie auf den Arm nehmen konnte.
Judith stand an der Spüle, als sie eintraten, und goss einen groÃen Topf Kartoffeln ab. Lilly stimmte erneut ihren Indianergesang an, und der Mann, den sie dabei umtanzte, kam lächelnd auf Ole zu. Es folgte eine BegrüÃung, die eher zu jugendlichen Gangsta-Rappern auf einem Schulhof gepasst hätte als zu zwei Männern Anfang vierzig in einem Reihen
haus. Der komplizierten Choreografie des Abklatschens folgte jedoch eine so herzliche Umarmung, dass Luise immer mehr das Gefühl bekam, hier fehl am Platz zu sein. Fieberhaft suchte sie nach einem Grund, um doch noch vor dem Essen verschwinden zu können.
»Das ist Markus. Die beiden waren in einer Klasse und haben dann zusammen studiert«, flüsterte ihr Judith leise zu, als Luise sie begrüÃte. »Er ist ein Netter, aber kann sich nie auf etwas festlegen. War jetzt ein Jahr in England, wegen der Liebe. Vorhin rief er an, er stehe am Flughafen. Ist völlig überstürzt aus London weg. Eigentlich wollte er im Januar seine Wohnung hier auflösen, um ganz rüberzugehen. Hat sogar einen festen Job dort. Nun hat ihn seine Freundin vor die Tür gesetzt. Mehr weià ich auch noch nicht. Die Kinder haben die ganze Zeit dazwischengequatscht.«
Wie aufs Stichwort unterbrach Lilly sie mit lautstarkem Gesang. Luise war erstaunt, wie Judith zwischen Kartoffeln und Putenfleisch so nebenbei ein fremdes Leben mit seinen aktuellen Dramen in geschätzten zehn Sätzen zusammenfasste. Sie fragte sich, was Judith wohl über ihr Leben erzählen würde. Oder schon erzählt hatte.
»Lilly ist völlig aus dem Häuschen«, redete Judith unterdessen weiter. »Markus ist ihr Patenonkel. Im Sommer waren wir ja ein paar Tage bei ihm in London. Das hat Ole dir bestimmt erzählt, oder? Da hatten es die Mädchen mit Pocahontas. Dass er ihnen nun die Indianersachen mitgebracht hat, katapultiert ihn für Lilly endgültig in den Heldenhimmel.«
»Er wusste schon immer, wie man Leute um den Finger wickelt«, lachte Ole, der sich mit Markus im Schlepptau zu
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