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Esswood House

Esswood House

Titel: Esswood House Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Straub
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räkelte, war eine Person, die man in gewisser Hinsicht als ihr männliches Gegenstück bezeichnen konnte. Ein hochgewachsener, hagerer Mann in zerknitterten Anzügen, offenen Hemden mit schiefem Kragen, manchmal auch Fair-Isle-Pullundern, die ihm zu klein waren, der mit einem langen, schiefen Gesicht, in dem Kinderkrankheiten, Pubertätsakne und ein langer, übermäßiger Alkoholkonsum ihre Spuren und Pockennarben hinterlassen hatten, in die Kamera sah. Sein linker vorderer Zahn und der Schneidezahn fehlten, seine Hände, doppelt so groß wie die von Standish, hatten Gelenke wie Kugellager.
    Nicht das alles erinnerte Standish an Isobel, sondern nur die sorgenvoll enttäuschte Aura die den Mann umgab - das Gefühl, das wie ein Geruch von dem Bild aufstieg, als wäre er um gerechten Lohn betrogen worden, als hätte er Schwerstarbeit geleistet, die zu seiner Verblüffung weitgehend ignoriert wurde. Er war ungeschlachter als Isobel, aber genauso verbittert. Ich habe mehr verdient, ich brauche mehr , verkündete sein verschmitztes, bäuerliches Trunkenboldgesicht. Standish verabscheute ihn, noch ehe ihm richtig bewußt wurde, um wen es sich handeln mußte, und dann wurde ihm klar, daß er ihn teilweise umso mehr verachtete, weil er sich selbst in dem Mann wiedererkannte. Wenn diese Person ein Amerikaner der 1980er Jahre gewesen wäre, kein Engländer siebzig Jahre davor, dann wäre er vielleicht mit jemandem wie Jean Standish verheiratet und würde in irgendeinem toten Zenith im Mittelwesten unterrichten. Er würde sich besser kleiden und eine Krone würde die Lücke zwischen seinen Zähnen schließen. Er würde über den Roman des neunzehnten Jahrhunderts dozieren, nicht besonders gut, aber mindestens so gut wie William Standish.
    Standish drehte eine weitere der dunklen kleinen Fotografien um und sah den Mann, der sich mit einem lüsternen Zahnlückengrinsen und einem wie ein Strick umgebundenen Halstuch an die Rückfront von Esswood House lehnte.
    Das war natürlich Chester Ridgeleys Darling Theodore Corn.
    Dann wurde Standish klar, daß er noch ein Teil des Puzzles kannte - Isobel hatte diese Fotografien von Corn gemacht, genau wie er alle Fotografien von Isobel gemacht hatte.
    Und das führte zu der letzten Tatsache, der ultimativen Tatsache, wie sich Isobel vielleicht ausgedrückt haben würde, die vor einiger Zeit Standishs Gefühl bevorstehenden Unheils auslöste, als er die ersten Fotografien aus Corns Kiste fallen gesehen hatte. Die Memme Corn war der Mann, den Isobel in Esswood kennengelernt hatte, der Mann in ihren Memoiren. Theodore Corn war ihr Zigeuner und Landstreichergelehrter. Er war der Vater ihres verlorenen Kindes. Und somit war er auch ihr Mörder.
    Standish hielt das lose Bündel Fotografien einen Moment, der bar jeder Gedanken und Gefühle zu sein schien, in der Hand. Er ließ sie fallen, sie regneten auf die verstreuten Seiten. Standish kickte einen Moment müßig nach dem Schlamassel und brachte die Fotografien durcheinander. Alles um ihn herum schien sinnlos zu sein, vollkommen sinnlos und tot. Die Sinnlosigkeit war schlimmer als der Tod, denn die Sinnlosigkeit existierte im Zentrum eines Geheimnisses, wie die Schnörkel einer wunderschönen rosa und elfenbeinfarbenen Muschel, die immer tiefer und tiefer in das glühende Innere hineinführten - ins Nichts.
    Theodore Corn sah von hundert Fotografien zu ihm auf, verschlagen und fadenscheinig und unergründlich.
    Standish watete durch den Haufen Papier und schmetterte die Axt in POUND. Eine weitere Masse von Blättern stob aus einer zertrümmerten Kiste empor und fiel, dicht wie Laub, zu Boden. Er sah Isobel, die neben Theodore Corn am Eßtisch saß und ihn über den Rand ihres Weinglases ansah. Standish schwang die Axt und zertrümmerte eine weitere Aktenkiste.
    Schließlich sah der zweite Erker wie der erste aus - kahle, zersplitterte Regale über einem Durcheinander von Papieren und zertrümmerten Kisten, das ihm bis zu den Knien reichte. Standish stützte sich keuchend und unsicher auf seine Axt und betrachtete den zentralen Mittelteil der Bibliothek. Er hatte den ganzen Nachmittag gearbeitet, aber mit seinen Bemühungen der Bibliothek als Ganzem kaum einen nennenswerten Schaden zufügen können. Die Unordnung, die er angerichtet hatte, beschränkte sich weitgehend auf die Erker, in denen die Aktenkisten gestanden hatten. Die Wanderdünen aus Pappe und Papier quollen fünfzig, sechzig Zentimeter aus den Erkern heraus wie Schaum aus einem

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