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Esswood House

Esswood House

Titel: Esswood House Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Straub
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zubetoniert worden. Die einzige Beleuchtung bildete das Licht, das mit Standish eindrang. Er wischte sich Schweiß von der Stirn und wartete, bis seine Augen sich angepaßt hatten. Ein trockenes Tick-tack-tick , das sich vage wie trockenes, furchtsames Gelächter anhörte, als würde einem das Lachen im Hals steckenbleiben, tönte vom Korridor herein.
    Schließlich konnte Standish erkennen, daß er in einen leeren Raum eingedrungen war. Er war nicht sicher, was er erwartet hatte - ganz gewiß nichts so Eindeutiges wie Skelette oder einen Hackklotz, aber etwas, das ihn erschüttern würde. Der Boden neigte sich fast unmerklich einem Abfluß in der Mitte zu. Vor der hinteren Wand wirkte der Betonboden abgewetzt, als hätte dort lange Zeit ein sehr schweres Möbelstück oder Gerät gestanden. Er sah lange, schwache Kratzer im Boden. Zuletzt sah Standish an der Innenwand auf der linken Seite etwas, das auf den ersten Blick eine Reihe rechteckiger Rahmen oder Kisten zu sein schien. Die staubigen Kästen erinnerten ihn an die gerahmten Schmetterlinge in dem Knochenzimmer; als er nähertrat, sah er, daß es sich bei den Kästen um gerahmte Fotografien handelte.
    Die Schwarzweißaufnahmen verschmolzen mit der Dunkelheit ringsum und waren nur schwer zu erkennen. Es waren insgesamt sechs, gewöhnliche Schnappschüsse unspektakulärer Paare. Soweit Standish anhand der Kleidung der Leute auf dem ersten Bild erkennen konnte, war es Ende der zwanziger oder Anfang der dreißiger Jahren entstanden. Auf der dritten Fotografie trug der Mann die Uniform eines amerikanischen Armeeoffiziers. Danach trugen die Männer wieder Anzüge. Die Frauen an der Seite der ersten beiden Männer trugen Schleier; alle anderen Frauen Hüte mit breiten Krempen, oder sie wandten die Gesichter von der Kamera ab oder standen in so dunklen Schatten, daß man sie kaum erkennen konnte. Zwei der Fotografien waren auf der ersten Terrasse hinter Esswood House aufgenommen worden, zwei auf dem Pfad, der um den langen Teich herumführte - Schatten der knorrigen Eichen verbargen die Gesichter der Frauen. Dann erkannte Standish das Gesicht eines der Männer am Teich. Das Gesicht sah hohlwangig und ungesund aus, die Knochen über den Augenhöhlen standen wie Wülste vor und die Schultern des Mannes waren unverkennbar gebeugt. Er lächelte - lächelte ekstatisch. Es war Chester Ridgeley, fünf oder sechs Jahre älter als zu dem Zeitpunkt, da Mr. und Mrs. Standish, William und Jean, die Standishs, den falschen, von Schlangen verseuchten Garten Eden des Popham College in der Stadt Popham verlassen hatten.
    Aber es gab keine Mrs. Chester Ridgeley.
    Die Frau an der Seite des fröhlichen alten Gelehrten hatte sich von der Kamera abgewandt in den Schatten einer deformierten Eiche. Ihre Haltung war die einer Frau, die von einer Bemerkung oder Frage abgelenkt wird; Ridgeley hielt ihre Hand zwischen seinen beiden gefangen.
    Die Frau schien um die Dreißig oder Vierzig zu sein, kräftig gebaut, breitschultrig, mit der Art von angeborenem, selbstgenügsamem körperlichem Selbstvertrauen ausgestattet, mit dem auch sonst durch und durch gewöhnliche Frauen manchmal gesegnet sind und über das Gewöhnliche hinaus gehoben werden. Standish wandte sich der Fotografie neben der von Ridgeley und der Frau zu. Hier beugte sich ein untersetzter Mann auf einem der Stühle der ersten Terrasse ins Sonnenlicht. Seine Begleiterin schlug die makellosen Beine übereinander, aber ein Sonnenschirm verbarg die gesamte obere Hälfte ihres Körpers.
    Standish sah sich die Reihe der Fotografien nacheinander an und betrachtete jedes Paar eingehend. Die Männer, vermutete er, waren allesamt Akademiker - Esswood-Stipendiaten. Die Frau war stets dieselbe Frau, und stets von dieser fast unwillkürlichen Aura körperlichen Selbstvertrauens umgeben, das man den hochgereckten Schultern, der Haltung ihrer Arme, dem Schwung ihrer Hüften entnehmen konnte. In all den Jahren, die die Fotografien umfaßten - sechzig? fünfundsiebzig? - war sie keine zehn Jahre gealtert.
    Standish trat von den Fotografien zurück und wurde sich einen Moment bewußt, daß er halbnackt, schmutzig und außer Atem war, aus zahlreichen winzigen Schnittwunden und Aufschürfungen blutete, daß er stank ... Die Welt, in der Frauen lebten, schien ihm, unterschied sich grundlegend von der Welt der Männer. Er glaubte, er würde zehn Jahres seines Lebens für einen einzigen Tag in dieser Welt geben.
    Standish wandte sich von den verschwommenen

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