Esti (German Edition)
das verantwortungslose Gefühl der Dankbarkeit: Ich habe einen Freund, und der ist hier, wartet auf mich, was kann mir passieren?!
Diesmal sah ich seinem Gesicht sofort an, dass etwas passiert war. Wie er aufblickte, lächelnd, ruhig, heiter – alles gelogen. Er wartete nicht einmal ab, dass ich mich setzte, er drückte mir ein Foto beziehungsweise die Kopie eines Fotos in die Hand und schrie mich an: Was meinst du, was das ist? Weder Lächeln noch Ruhe noch Heiterkeit, nur das Bittere der vernichteten Zigaretten stieg mir wie frisch geriebener Meerrettich in die Nase.
Darf ich mich setzen?, fragte ich lächelnd, ruhig und heiter und setzte mich. Esti sah mich so befehlend an, dass ich sofort auf das Bild blickte. Ich mag das Foto, Fotos an sich. Es stimmt zwar nicht, dass sie einen stärkeren Bezug zur Wirklichkeit hätten als Gemälde, doch scheint diese Verbindung auf jeden Fall stärker, es sieht sie auch jemand, der keinen Blick dafür hat – wie zum Beispiel ich. Ich kann mir von der Wirklichkeit nur schwer ein Bild machen, ich sehe sie an, sehe sie an und sehe sie nicht, denn sehen kann man natürlich immer nur das Bild. Deshalb bin ich dankbar, wenn jemand, zum Beispiel ein Fotograf, das für mich macht. Selbstverständlich zeigt das Bild nicht, was auf ihm drauf ist (wie auch der Roman, das Herz des Romans kalt bleibt, er eine fast beleidigte Beziehung zur eigenen Handlung pflegt), es zeigt nicht den zungeherausstreckenden Einstein, nicht das World Trade Center oder dessen Platz oder nicht trauernde Frauen in einem Zimmer, sondern – nun, das ist schwer auszudrücken, ohne dass es großspurig, wie ein Bluff oder intellektueller Schmus klingt. Denn das Bild (der Roman) zeigt immer uns, das Leben, die Existenz, die Welt, die Hoffnung oder deren Mangel (als Hoffnung), Gott (oder dessen Mangel als Hoffnung), den Himmel, die Erde: immer das Ganze. Ein Bild ist das Ganze, und vom Ganzen handelt (erzählt) es auch.
Ich betrachtete das Bild, als ginge es mich persönlich nichts an, die altbekannten Gesichter erkannte ich nicht, weder Elena Viterbos maskenhaftes Gesicht vorn noch das holde kleine Gesicht der Baroness weiter oben, an der Biegung des Ofenrohrs, denn zuerst sah ich die Komposition, die Struktur, die sehe ich immer zuerst (und das erwähne ich noch nicht einmal selbstkritisch). Ich sah die aufeinander aufbauenden Vielecke, das schwarze, einheitliche Fünfeck. Der Streifen, der an dem schwarzen Block begann und in der Ecke zu zwei Streifen auseinanderlief, war wie ein Kreuz, Hiatus, Nichts (was in Kenntnis des Bildtitels – Mr. Gordons Begräbnis – zumindest vielsagend ist).
Und da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, ich sah die Baroness, wie ihr leidender Blick dem forschenden Auge der Kamera ausweicht. Doch ich konnte mich nicht mehr beherrschen, ich blickte meinen Freund, diesen gemeinen Verräter, verblüfft an. Gordon, du Mistkerl!, brüllte ich Kornél Esti ins Gesicht und … (hier bricht das Manuskript ab).
Dieser Abbruch ist Kornél Estis Leben geworden.
Das Moskauer Fragment
(Skizze)
E ine kulinarische Skizze, das ist mein Ehrgeiz, sagte Kornél Esti bei der Rückkehr aus Moskau, das möchte ich sein. Eine wohlschmeckende Verheißung. Esti wollte alles, er schämte sich auch nicht, als alles zu kommen, nur schrieb er das »alles« nicht groß, nun, um es umständlich auszudrücken, er hatte vom »alles« fragmentarische Vorstellungen. Wir wussten, seit geraumer Zeit arbeitete er an einem delikaten Text, mit großer Anstrengung, und kam überhaupt nicht voran. Grübelte nur. Grübeln ist der Feind des Schreibens. Eingeweicht in Wacholderschnaps keimen die Geschichten. Doch woher bekam man Wacholderschnaps in Großhandelsmengen? Hektoliter. Die nationale Küche ist so etwas wie die Relativitätstheorie. Sie wirklich, gründlich zu verstehen ist quasi unmöglich, sie abzulehnen lächerlich. Meine Lieben, wir sind Materie, die Unvollkommenheit schlechthin: Vergebens lausche ich der stillen, klopfenden Musik der Speisen, nichts: Paprikahuhn, Marzipanzwerge und ein bisschen Reue. Am ehesten Paprikahuhn, dann die Marzipanzwerge und last and least diese Reue sind Estis Leben.
*
Natürlich war Kornél Esti nie in Moskau gewesen, und natürlich war das überhaupt nicht von Bedeutung, schon allein deshalb nicht, weil wir damals – Kaffeehäuser, berauschter Taumel in der Frühe auf den leeren Boulevards eines jungen und wilden Budapests, im Fellini’schen Nebel, mit langen, vor Kälte
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