Esti (German Edition)
bis zum Mund hochgezogenen weißen Seidenschals, auf denen Speichelkugeln saßen wie echte Perlen –, damals der Wirklichkeit keine große Bedeutung zumaßen. Wir lebten in der glanzvollen Zukunft. Wir schätzten die Wirklichkeit nicht gering, vielmehr wollten wir ihr, dieser unseligen Idiotin, auf irgendeine Weise helfen, sie, nun, im Nachhinein kann ich es eingestehen, erschaffen, wir wollten die Wirklichkeit erschaffen und auf diese Weise erkennen. Wir waren jung, wir sehnten uns nach allem wie die drei Schwestern nach Moskau. Wir setzten die Wirklichkeit wie die Liebe zwischen das Nichts und die Phantasie. Diese Liebe war für eine kurze Zeit unser Leben, für Esti länger (wegen und um der drei Schwestern willen).
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Vielleicht hatte Esti nie so viel erzählt wie bei seiner Rückkehr aus Moskau. Gar nicht viel, eher farbig, schwungvoll, voller Lust. Kurz, er wollte etwas nicht erzählen. Dieses »nicht« ist sein Leben, scherzhaft gesprochen. Oder dieser Scherz ist sein Leben, um dem Unernst ein Ende zu machen. Klar: Das Ende (dieses?) ist sein Leben.
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Er stürzte ins Kaffeehaus, und schon brach es aus ihm heraus, fegte sogar die Begrüßung hinweg, mit der Esti allerdings heikel war, er siezte gern und grüßte gern, er siezte, wen er konnte, und grüßte, wen und wann er konnte. Meine Freunde, ich habe die erbärmliche und einsame Sünde der Widerspiegelung der Wirklichkeit begangen, beachtet mich nicht. Und fallt mir nicht ins Wort. Moskau ist groß. Die Russen sind tatsächlich so viele wie die Russen. Alles ist größer, dramatischer, brutaler. Ein Jaguar steht neben einem dreißig Jahre alten Lada. Was ein dreißig Jahre alter Lada bedeutet, kann man von Budapest her nicht wissen. Das ist nicht drei mal zehn, das ist eine andere Dimension. Oder dass es wirklich Kommunisten gibt, Millionen, nicht nur als Andeutung oder Parodie. Dass selbst die Großmutter ausschließlich diese Lüge gehört hat. Dass also die Erinnerung eine andere ist. Und dass ich die Augen schließe und nach einer halben Stunde wieder öffne, und das Auto noch immer auf demselben Prospekt dahinrast. In Moskau gibt es keine Straßen, nur Richtungen, höre ich. Und so weiter, das muss ich noch ausarbeiten: ein kleines russisches Kulturpanorama, bravourös, also plus Soziologie, politische Analyse und humanistisches Einfühlungsvermögen bis hin zur im Krieg geraubten ungarischen Bibliothek – ich stand nur in unseren Büchern blätternd und verfluchte lautstark den Kommunisten-Gott (den habe ich vielleicht mit kleinem »g« gesagt, ich hoffe, ihr habt das gehört, ihr atheistischen Ungeheuer), während ich voll Dankbarkeit den Bibliothekarinnen zuhörte, die wie Frauen redeten, die Bibliothekarinnen sind, das heißt, die zwar hinsichtlich ihres politischen Standpunktes (Bücher geben wir nicht zurück) zerstreut nickten, die jedoch nur interessierte, dass die Bibliothek sichtbar und zu besichtigen war, man die Bücher vor Augen hatte, und dann, so dachte ich für mich, ist es fast egal, wo die Bücher stehen. Sicher, wenn es wirklich egal wäre, dann könnten sie durchaus auch bei ihrem Besitzer stehen, zu Hause. Dieses »zu Hause« ist Estis Leben.
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Ich glaube nicht, dass ich irgendwann einmal Wein ausgespuckt hätte, sagte ich in Moskau zur ersten, erstbesten Frau, von der ich glauben konnte, dass ihr Anton Pawlowitsch nicht fremd war (und natürlich auch nicht Rabelais, doch davon schwieg ich), das heißt, mit der es eine gemeinsame Basis gab, von der wir uns abstoßen konnten, von der aus wir sabiratj uroschai konnten, ein Trampolin, ein Schneidbrett, von dem aus wir organisch fliegen konnten wie kleingeschnittene Zwiebeln. Oder wie der Duft von was nochmal, Oregano oder was. Und Basilikum und Dost. Alle Moskauer Frauen sind großartige Köchinnen, ich würde nicht einmal sagen, dass das Kochen bei ihnen Teil des Vorspiels ist, es ist eher so, dass es das Vorspiel ist. (Habe hinsichtlich Moskaus freilich immer im Kopf, dass im Prinzip ja, aber nicht in Moskau, sondern in Sankt Petersburg, und kein Mercedes, sondern ein Fahrrad, und nicht gewonnen, sondern gestohlen.) Kinder, wo habe ich gelesen, dass eingeweicht in Wacholderschnaps die Geschichten keimen? Wir wussten es nicht, es interessierte uns auch nicht. Dieser Wacholderschnaps ist Estis Leben.
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Esti-Sätze: Die nationale Küche ist so etwas wie die Relativitätstheorie. (Csaba Farkas Varjasi) Wir sind Materie, die Unvollkommenheit schlechthin. (Eszter Babarczy)
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