Esti (German Edition)
nüchtern, nüchtern und heftig, ich trinke nicht aus Durst, nicht aus Kummer, nicht aus Rache, nicht als Ady-Paraphrase, sondern: weil es mir schmeckt. Wegen des Geschmacks. Der gute Trinker überstürzt nichts, antreiben aber lässt er sich schon gar nicht. Der Wodka hat nichts Bukolisches an sich. Meine russischen Freunde sahen diese schwächlichen sapadistischen Anstrengungen teilnahmsvoll mit an, diese verdächtigen Tempoeinheiten des Verstandes.
Die Übung jedoch brachte mich auf die Lösung: Wodka trinken wir nicht davor, nicht danach, nicht während, nicht anstatt: sondern immer. Wenn Suppe, dann dann. Wenn Torte, dann dann. Schlacht von Stalingrad oder literarischer Abend: dann. Jederzeit. Beziehungsweise, und hier liegt jene gewisse russische Zeit, sejtschaß, begraben: Wodka muss man trinken, damit die Zeit vergeht. Zuerst glaubte ich, man braucht ihn nur, um die Zeit zu messen, doch nein. Obwohl: Wenn man die Zeit nicht messen kann , vergeht sie dann? Ich befürchte, wir sind wieder bei der Relativitätstheorie. Angeblich wurde Sartre rot vor eitler Freude, als die Moskauer Parteiversammlung auf Chruschtschows Wink (ein kaum wahrnehmbares Auffliegen der Hand) aufstand und ihm applaudierte. Beifallsstürmte. Der mir das erzählt hat, stand dort neben Sartre, seitlich, auf der Tribüne, ein junger Literaturwolf.
Ich weiß nicht, was nun Estis Leben ist.
*
Es war nicht schwer zu arrangieren, dass ich im Flugzeug neben Natascha saß.
Sie hatten mir eine kulinarische Geschichte versprochen. Erschrocken sah sie mich an.
Haben Sie es denn nicht vergessen? Ich wollte, dass Sie es vergessen.
In Geschichten, Natascha, ist – außer ihrem Duft und Aroma – die Zeit das heiligste Geschenk, die Lebenszeit, die der Erzähler von seiner eigenen ausschenkt.
Hoffen Sie gar nicht erst darauf.
Ich zuckte die Schultern, ich hatte diese Plackerei satt. Ich sehnte mich nach etwas Barockem, nicht nach dieser Minimal Art. Und ich sagte das auch. In diesem Augenblick lief wie eine Orgasmenserie ein Wallen durch Nataschas Körper, von unten nach oben und von innen nach außen, und sie erbrach sich in einem Strahl. Russland ist groß. Als sie fertig war, musterte sie mich sichtlich zufrieden. Ich erwartete schon, dass sie sagte, da, nimm, verdammt, Kornél Árpádowitsch, da hast du deine Geschichte. Doch sie schwieg still, ruhig. Ich blickte an unseren Beinen herab. Wir wateten in den Einzelheiten.
Was wollen Sie? Was erhoffen Sie sich? Aus diesen Fragmenten die Welt zusammenzusetzen?!
Sie zuckte fröhlich die Schultern. Ich sah ihre Stirn an. In der oberen Ecke, wo die Briefmarke wäre, strahlte das Gelbe des Spiegeleis – wie auf Kinderzeichnungen die Sonne. Ich begann mir Sorgen zu machen wie eine Tante.
Und wie nun weiter?
Wieder zuckte sie die Schultern. Schnallen Sie sich an. Ich weiß nicht.
Im Kaffeehaus wurde es still, wir dachten an Natascha, an alle Nataschas in diesem Jammertal, an Russlands unermessliche Größe und an den Gurt, an dem wir auf ewig ungeschickt herumfingern. Es läge auf der Hand, auf meiner ungeschickten Hand, zu sagen, dieses Herumfingern sei Estis Leben. Ich weiß es nicht.
Estischmus
Der Wen-interessiert-die-Literatur-Schmus
A uf einmal trat wie eine wunderschöne Prinzessin oder ein anderer Märchenheld, ein Frosch, König Mátyás, Rumpelstilzchen, vor Esti die Frage: Wen interessiert die Literatur? Jetzt im Ernst, kein ironisches Versteckspiel. Seine Tochter stellte ihm die Frage. Einsam auf der Klippe im Wind, der die Zähne klappern lässt, das fehlende Heldentum als Heldentum, doch ein ewiger Spieler und Skandal, so sah ich Kornél Esti. Der sich jedoch – ich habe es erwähnt – in diesem Familien-Projekt verheddert hatte, verschwunden der Wind, der die Zähne klappern lässt, verschwunden die Klippe, beziehungsweise bekam alles einen anderen Anstrich. So ist das Leben, dachte Kornél Esti, beziehungsweise dachte er nichts, so ist das Leben. Das Problem mit dem Ernst ist, so grübelte Esti ernst, dass er immer schwerer vom Pseudoernst zu unterscheiden ist. Seine Tochter warf ihm ihren klugen Blick zu, Papa, jeder ist Laci Aradszky.
Ich höre dir zu, die Prinzessin, der Frosch, König Mátyás, Rumpelstilzchen umarmte Esti. Esti fing an: Er befürchte, die Frage – wen interessiert sie? – bedeutet nicht, dass wir taxativ aufzählen, wen tatsächlich, István Kovács, Frau Kovács, István Kovács’ Sohn. Vielmehr wen … in Gottes Namen interessiert sie überhaupt,
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