Esti (German Edition)
ihn unerwartet, entfuhr ihm ein gewaltiges, dennoch leises Ächzen, das nah am Wimmern und nicht weit entfernt vom Seufzen war. Wie Blei, so schwer fühlte er sich. Und ein Schmerz ohne konkreten Schmerz überkam ihn. Der Schmerz, das Wort überflutete ihn. Als sei er aufgedunsen. Als sei er mit seinem eigenen verdorbenen Fleisch vollgestopft. Er legte sich zum Ausruhen auf den Bauch; sein Kopf bohrte sich ins Kissen wie in Schlamm. Als wäre sein Haltbarkeitsdatum abgelaufen. Da wurde es halb zehn.
Alt. Bin ich. Sagte er laut, ein Teil des Ächzens. Die Luft entwich ihm pfeifend wie einer gut synchronisierten alten Frau. Und prompt dachte er auch: Von nun an möchte ich ausschließlich kleine böse Novellen schreiben. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit einem wohligen Gefühl. Er sprang auf, erschrocken bemerkte er, wie jugendlich, ging in sein Zimmer, zu seinem Schreibtisch (aus dem abstrakten und sinnlichen Raum des Bettes in den abstrakten und sinnlichen Raum des Tisches) und schlug sein Ideen-Heft auf. Ideen für Novellen, mit Grün; mit Rot gestrichen, wenn er sie geschrieben, mit Schwarz, wenn er sie verpfuscht hatte. Oder er vergaß, was er eigentlich wollte. Zuletzt hatte er mit Schwarz gestrichen: »vorsichtige Annäherung, fehlende Entscheidung, Flecke, Trüffelarten, Grappasorten, ein deutsches Wort: möge , das Ich spricht in der dritten Person von sich, siehe Jandl!, anschwellende, tiefpurpurne Blütenblätter«. Was mag das sein? Völlige Finsternis, obwohl er Schwarz nicht deshalb verwendete.
Meine Begegnung mit der deutschen Sprache, dieser grüne Titel war die letzte Eintragung. Und mit Bleistift, sichtlich überstürzt festgehalten, Notizen: 1. ONKEL, ONKEL, BITTE UHR . Mein lieber Neffe. Wenn du in zwei Wochen, in denen du mit deiner Tante auf dem, ich gebe zu, aus finno-ugrischer Sicht mühevollen Weg der Aneignung der deutschen Sprache voranschreitest, in wenigstens zehn, seien sie auch noch so kurz, zehn deutschen Sätzen begründen kannst, warum du sie brauchst, bekommst du sie. WAS ? Nicht WAS , niemals WAS , sondern WIE BITTE . (Lanco war, wurde der Name der Uhr.) 2. SCHWEIß , nicht BLUT . 3. LACHT WIE EIN HOLZHUND , das verstand keiner. Ich wiederum verstand nicht, was da nicht zu verstehen war. 4. Das lila Haar der Deutschlehrerin. 5. RÜBENZUZLER . RÜAMZUZLA . 6. WENN DIE SOLDATEN DURCH DIE STADT MARSCHIEREN etc. Und am Ende irgendwie so: DRÜBERE, DRUNTERE, ABER AUCH JUHE (?). 7. Die gotischen Buchstaben! Und: Es lebe das SCHARFE ß ! 8. POLTER! POLTER! (Blättern in einem FIX UND FOXI -Heft Anfang der sechziger Jahre, die strenge Wiener Tante fragt argwöhnisch, was ich mache, das heißt, womit ich meine Zeit fülle , ich lerne Deutsch. Recht so, sagt sie und blickt in das Heft, auf der Doppelseite ein einziges Wort, auf dem einen Bild rollen Steine und daneben steht, vermutlich das Geräusch des Steinschlags nachahmend: POLTER! POLTER! Ich verstehe, sagt die Prinzessin kühl und verlässt das Zimmer. Plötzlich verstehe ich, wie Revolutionen entstehen.) 9. »Und die Deutschen haben auf alles Nutella geschmiert! Die reinste HITLERJUGEND !« – »Nicht die Deutschen, die Österreicher.« – »Egal.« – »Nicht egal.« 10. In Polen konnte er entweder Deutsch oder Russisch sprechen. Das eine ist schlimmer als das andere. Versuch in demonstrativ verstümmeltem Deutsch. Jetzt ist es freilich bequem, Ungar zu sein, was?! 11. Wes die Sprache, des die Macht. »Warum hast du ungarisch mit ihnen gesprochen?« – »Sie haben mir lange deutsche Sätze gesagt. Und ich habe ihnen lange ungarische Sätze gesagt.« – »Aber so habt ihr einander nicht verstanden.« – »Nein.«
Esti sprach außer ungarisch am liebsten portugiesisch, »in der Sprache der Blumen«, aber Deutsch verwendete er am meisten. Durch das Deutsche kam er mit dem nichtungarischen Teil der Welt in Kontakt, mit dem Rest, und dafür war er der deutschen Sprache dankbar. Es blieb zwischen ihnen eine gewisse Spannung, Fremdheit – doch Beziehungen sind nun einmal so. Nichtsdestotrotz dachte Esti manchmal hochmütig: Und wie ich Deutsch könnte, wenn ich Deutsch könnte.
Sein Nichtkönnen ruhte auf zwei starken, stattlichen Säulen. Der Mangel an Stilgefühl war das eine oder, wie Esti es gern formulierte: Er kennt, weiß, fühlt den Platz der Sätze nicht, wo denn nun ein Satz ist, einer seiner Sätze zwischen Grimmelshausen und Handke. Auf Ungarisch weiß er das, da weiß er fast nichts anderes. Sein Verhältnis zu den
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