Esti (German Edition)
wir.
Deshalb könnte man trotzdem etwas antworten, antwortete unsere Mutter nicht sonderlich überzeugt.
Wenn wir es könnten, bräuchten wir keinen Deutschlehrer. Und meine Schwester fügte noch unverschämter hinzu: nespa?!
Oh, wie geistreich!, kreischte TANTE Nelli erneut und streckte ihre Hand nach meinem Gesicht aus, doch ich riss den Kopf zurück.
Als unsere Eltern uns allein ließen, wurde TANTE Nelli, als fiele eine Maske ab, normal, ernst, zielstrebig, wirklich. Freundlich und streng. Nichtsdestotrotz war es seltsam, jemanden, einen Erwachsenen, zu sehen, dessen einziges Ziel es war, uns die deutsche Sprache einzutrichtern. Als interessierte sie auf der Welt nichts anderes, als gäbe es sonst nichts Interessantes auf der Welt. Deshalb konnten wir sie schließlich nie ganz ernst nehmen.
Und da geschah etwas, das mein Bild von der deutschen Sprache grundlegend bestimmen sollte. TANTE Nelli hatte sich vorbereitet, sie brachte Hefte, spezielle mit einem breiten Rand, Bleistifte, weiche, 2B, die leicht zu radieren waren, und Radierer, die mit dem Elefanten. Sowohl in der Stunde als auch die Hausaufgaben mussten wir mit Bleistift schreiben, und wenn wir einen Fehler gemacht hatten, mussten wir ihn wegradieren (am Anfang zeigte uns TANTE Nelli, wie; sie radierte uns vor), damit, so sagte sie, in der Welt kein Fehler bleibt.
Warum, ist die Welt etwa sonst fehlerfrei?, fragte ich keck.
Oh, wie geistreich, sagte TANTE Nelli erneut, nun jedoch leise, gleichsam streng, ja, traurig. Sie nahm das Sofa für zwei Personen fast in der ganzen Breite ein. Wir hielten sie für alt, sie war um die fünfundvierzig. Wenn sie saß, drückte das Gewicht ihres Bauches ihre Schenkel auseinander. Der Bauch schien ein extra Körperteil, gewissermaßen ein eigenes Lebewesen. Ich ließ den Radierer fallen und kroch ihm unter den Tisch hinterher, und da unten begegnete ich ihren beiden Schenkeln. Oder, besser, dem von den Schenkeln gebildeten Tunnel. Doch ich sah nur die Unterhose. Eine große, aber dermaßen große Unterhose, wie man sie sich nicht vorstellen konnte. Wie ein riesiges weißes Segel (aus der Nähe). Eine Zeltbahn. TANTE Nelli unterrichtete nach Vajda/Fürst: Für Anfänger . Von oben hörte ich: DER VATER ARBEITET . Ich starrte auf das überwältigende Weiß. DIE MUTTER KOCHT . Die verschneiten Hochebenen müssen so aussehen. Was ich sah, war gigantisch, rein und geheimnisvoll. DAS KIND SPIELT . Immer mehr war ich überzeugt, dort unten, wo der Bauch beginnt, die deutsche Sprache selbst zu sehen, ja, so ist also die deutsche Sprache, gigantisch, rein und geheimnisvoll. DER SOHN LERNT . Mit rotem Gesicht kam ich aus der unteren Welt wieder hoch. TANTE Nelli sagte gerade freundlich: DIE GROßMUTTER REINIGT DAS FENSTER .
Da beschloss ich … was eigentlich? Ich fasste in Sachen Erlernen der deutschen Sprache irgendeinen kindlich ernsten und erwachsen nicht befolgten Entschluss. Von da an versuchte ich den Radierer so oft wie möglich fallen zu lassen. Als ich einmal schon zum zigsten Mal auf allen vieren unter dem Tisch herumtappte, berührte TANTE Nelli mit ihrer riesigen Schaufelhand federleicht meinen Kopf.
Lass den Radiergummi unten. Such nur, such schön ruhig. Und wenn du ihn gefunden hast, such weiter.
WEITER , es wurde für Esti das schönste deutsche Wort. Nicht böse genug, Esti überflog die Geschichte. Aber immerhin wahr, und er zuckte die Schultern. Er blickte auf seine Uhr, es war wieder halb zehn. Das wäre gut als Schluss, nur habe ich einen Satz ausgelassen. Esti: Mein Vater war Prüfer in der Dolmetscherausbildung, an jenem Tag hatte er gleich drei Prüflinge, alle hatten sie ein »sehr gut« bekommen. Denn die Vorgabe lautete, niemanden durchfallen zu lassen. Er erzählte es, als er nach Hause kam. Und da erhielt ich in Bezug auf meine Deutschkenntnisse von ihm das größte Lob. Das größte Lob meines Lebens. Er sah mich ernst an. Die waren sogar noch schlechter als du.
Viertes Kapitel
in welchem Kornél Esti und das Fragment
K ornél Esti, dieser aus Worten gewobene Mann, war während des Webens wild und einsam, kinderlos und voltairianisch. Er mochte seine Attribute. Dann jedoch (bei der Heimkehr aus Portugal, wo), irgendwie – aus Unachtsamkeit oder infolge einer kapriziösen Entscheidung oder erkältet? –, fand er sich auf einmal inmitten einer großen, glücklichen Familie wieder. Er wohnte nicht länger in einem dunklen Loch oder einer engen Mansarde, sondern in einem Vorstadthaus mit
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