Esti (German Edition)
durchbricht die Kruste der Herzen«. Aber sicher doch, Esti senkte den Kopf, in solchen Momenten war er nahe dran, einfach zu fluchen, worin sich seiner Mutter Sprache so erfinderisch wähnt; welche Erfindung damit aktiv zum unentbehrlichen Gleichgewicht der Welt beizutragen vermag. Doch all das nur nebenbei, es war, als würde er sich erinnern, als würde er aus alten Zeiten mit den Zähnen knirschen.
Als es an die Bescherung ging, drängte sich das Mädchen feierlich nach vorn und überreichte eine kleine bunte Schachtel. Die Eltern wickelten in gespielter Verlegenheit das Seidenpapier ab.
Wohl ein Hut?, so die Mutter.
Oder eine bessere Zigarre?, so der Vater.
Der Hund, so die Tochter.
So einen kleinen Hund gibt es gar nicht.
Es wurde still, nur das Papier raschelte. Die Mutter hob den Deckel ab, kreischte und fiel in Ohnmacht. Kornél Esti beugte sich hinab und nahm das Geschenk aus der Schachtel. Es war tatsächlich ein Hund, ein Teilhund, ein Hundeteil, ein Fragment: eine Hundepfote. Eine abgeschnittene Hundepfote. Wäre es ein Spinnenbein gewesen, hätte es sich noch bewegt. Allgemeine Panik brach aus. Esti sah seine Tochter verblüfft an, dann legte er ihr langsam die Hand auf den Kopf und streichelte sie zärtlich. Leise sagte er in den zu Tode erschrockenen Abend:
Wauu, wauuu.
Das höre ich seitdem jedes Weihnachten, Estis stilles, heiliges Winseln, das nach oben schwebt, hin zum Firmament, STILLE NACHT, HEILIGE NACHT , in den Himmel, wo der Herrgott thront, der Herrgott, den es Esti zufolge eigentlich gar nicht gibt, obgleich er anerkennt, da er es mit eigenen Augen sieht, dass er thront, auch sein Winseln schwebt deshalb da, da hinauf, hinauf …
Fünftes Kapitel
in welchem Der erste Mord des Kornél Esti
D amals war Kornél Esti gerade ein Hund. Darüber würde ich jetzt nicht allzu viel grübeln, denn schauen wir uns einfach den Satz an, was ein Hund ist, das wissen wir mehr oder weniger, beziehungsweise wir wissen es nicht, doch wir haben eine Vorstellung, vier Beine, Fell (im vorliegenden Fall natürliches, ungetrimmtes Nackenfell), Klang (wau! wau!), fertig; und auf das andere, das Subjekt, Esti einzugehen, lohnt sich nicht, weil es platterdings als möglich vorausgesetzt ist, als Maske, Leere, irgendetwas, JEDERMANN , auch wenn vielleicht wenige von uns gedacht hätten, dass es vier Beine hat.
Man mag es (wer »man« ist, darauf gehe ich ebenfalls nicht ein, weil ich dann auch darauf eingehen müsste, hier und jetzt, wer ich bin, konkret, wie viel Beine ich habe – Kuhhessigkeit in höchstem Grade unerwünscht! –, doch existierte diese Frage, das heißt, wäre sie sinnvoll zu stellen, gäbe es auf sie per definitionem keine Antwort, und gäbe es diese doch, dann gäbe es nicht nur keine Frage, sondern auch keinen Kornél Esti), man mag es, es wird gemocht, wenn ich Wittgenstein zitiere, in solchen Momenten hat man das Gefühl, mich zu durchschauen, je nach Typ (usw!, doch politisieren wir nicht) wird mir das zugutegehalten oder vorgeworfen, und so beruhigt man sich, mampft ein bisschen Dolce, im vorliegenden Fall russische Cremetorte, macht vielleicht auch noch ein Nickerchen (je nach Arbeitsplatz, Bergleute zum Beispiel können sich das nicht erlauben, nicht einmal auf Nachtschicht), darum zitiere ich jetzt Wittgenstein: »Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.)« Darum werfe ich die Einfachheit und Alltäglichkeit über Bord, darum. Daraus, dass Esti mir oder irgendjemandem als Hund erscheint, folgt nicht, dass Esti tatsächlich einer ist. Die Frage ist lediglich, was für einen Sinn es hätte, das in Zweifel zu ziehen.
Da wir heutzutage in dem Irrglauben leben, der Sinn des Lebens wäre Glück (das wir nicht oder kaum von der guten Laune zu unterscheiden vermögen), stellt sich zu Recht die Frage, ob Kornél Esti glücklich war. Das könnte ich nur mit Mühe beantworten. Aus Reflex würde ich verneinen. Ich zumindest wäre nicht gern an seiner Stelle. Estis Geschichte beginnt in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, Lord Tweedmouth schafft mit seiner aufopferungsvollen Zuchttätigkeit ein Lebenswerk, den Golden Retriever. 1865 (zwei Jahre vor unserem Ausgleich!) legt er sich einen gelben Retriever zu, der aus einem schwarzen Wavy-coated Retriever-Wurf stammt, um ihn 1868 (ein Jahr nach unserem Ausgleich!) mit einem leberfarbenen Tweed Water Spaniel zu
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