Esti (German Edition)
auf, was zu tun war, sie glaubte nicht, dass sie es sich merken konnten, sie konnten es sich tatsächlich nicht merken, nur fast, immer fehlte etwas, war etwas zu viel, in Esti wirbelten die Zettel, oder vielleicht war der Weg zum Geschäft zu weit, ein Vierpfundbrot, zwei Liter Milch, ein Bund Suppengrün (aber nur, wenn es schön aussieht!).
Wann sieht Suppengrün schön aus, murmelte er vor sich hin, als er den kleinen Laden betrat. Große Stille empfing ihn, ohrenbetäubende, naturwidrige Stille, keiner rührte sich, als wäre die Zeit stehengeblieben, Trick in einem Sci-Fi-Film … Doch nein, echte Kunden blickten starr zur Kasse, vor der Kassiererin stand ein Junge in Estis Alter, in der Hand ein Messer, Esti schlug dem Jungen, ohne zu überlegen, als wäre er noch beim Training, wie ein Cantona das Messer aus der Hand, jeder sah das wirbelnde Funkeln in der Luft, nur sie beide nicht, der Junge blickte Esti gereizt und ein bisschen so, als wäre er enttäuscht, an, ich bring dich noch um, du, damit sprang der über den Ladentisch, und bevor sie zu sich kamen, war er verschwunden.
Suppengrün, sagte Esti, aber nur, wenn es schön aussieht, der Kaufstellenleiter klopfte ihm auf die Schulter; Esti, der Held, zwischen den sommerlichen, leicht grünlichen sozialistischen Lyonerenden. Er verabschiedete sich von der Kassiererin, nur so weiter, mein Junge, sagte sie unaufmerksam, sie musste die angestaute Schlange abarbeiten. Sogar ein Protokoll wurde aufgenommen, Gymnasiast E. hat mit einem athletischen Schlag auf die das Messer haltende Hand gehauen usw. Er stand mit der welken Petersilie vor dem Laden, und da auf einmal packte ihn die Angst, jetzt fiel ihm auf, dass er gehandelt hatte, als wäre er in einem Film und nicht in seinem eigenen Leben, als wäre er in einem Roman, als wäre er ein Romanheld. Das ist ein Fehler, stellte er fest, und dann wurde dieser Fehler zu seinem Leben, er wurde sein Leben. Sein Leben, die Niederschrift seines Lebens, sein phantasiertes Leben und dessen Niederschrift – und die naheliegende Verwickelung von alldem ist sein Leben.
Als er die erste Platane erreichte, umarmte er schluchzend ihren Stamm, Entschuldigung, sagte er immer wieder, Entschuldigung, Entschuldigung.
Schicksalsfrage, das Wort flog von den extravagant geschminkten Lippen der Professorin auf, als klar war, dass sie die Straße nach Brindisi verfehlt hatten. Schicksalsfrage, puff, und schon ist das Unglück da. Nicht ganz, sie wussten lediglich nicht, ob sie sich verfahren hatten, eine gewisse Ungewissheit trat ein, ausgeschildert war Modugno (jetzt habe ich es mir auf der Karte angesehen: Sie hatten sich verfahren, sie kampierten da schon im Zustand der Verirrten), Modugno, sie kicherten und stimmten Tschau-tschau-bambina an. Wir könnten auch Richtung Pavone fahren, sagte einer von ihnen. Und da begingen sie die tragische Verfehlung, sie blieben mit dem Auto am Straßenrand stehen, breiteten die Karte aus, um ihren Platz in der Welt zu bestimmen.
Claudia Cserkaszegi hatte Esti angeboten, auf seiner italienischen Reise für ihn zu sorgen, und Esti hatte das mit Freuden angenommen, die Professorin galt nicht allein mit ihrer italienischen Bewandertheit, ihrem allgemeinen Sinn fürs Praktische, sondern auch mit ihren verblüffend reichen historischen, literaturhistorischen Kenntnissen als ideale Reisebegleitung, mit der Esti nicht zum ersten Mal unterwegs war, und die Professorin nahm – wieder folgt ein »nicht nur – sondern auch« – nicht nur alle organisatorischen Dinge von den schwachen Schultern Estis, der dieses kindliche Ausgeliefertsein mochte, gehen, wohin einem gesagt wird, diese Basilika, jene Ruine, diese Stracciatella di bufala, jener Provolone, sondern währenddessen führten sie auch eine Konversation auf hohem Niveau (laut einer anderen Übersetzung: auf höherer Stufe), zumeist von einem Konkretum des neunzehnten Jahrhunderts ausgehend, um schließlich immer, ob’s Regen regnet oder Schnee schneit, bei Lajos Kossuths Genius zu landen. Das Thema der Professorin war diesmal der Briefwechsel zwischen Kossuth und Flaubert, darauf war ihre Aufmerksamkeit gerichtet. Hatte es sich zugespitzt. Cher Gustave, nicht einmal mein chronisches Kopfreißen hindert mich daran, dieser vollsten Äußerung des französischen Genius das vollste Bouquet meiner Anerkennung zukommen zu lassen.
Claudia Cserkaszegi war die Tochter des großen Professors Cserkaszegi und schon in Italien geboren. Cserkaszegi hatte
Weitere Kostenlose Bücher