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Esti (German Edition)

Esti (German Edition)

Titel: Esti (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Péter Esterházy
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verwenden), wenn sie sich einem kunsthistorisch bedeutenden Etwas näherte. Auch die Reise mit Esti plante sie so, dass dieses ständige Erzittern garantiert war. Ein feuchter Schoß, murmelte Esti vor sich hin.
    Kossuth, lieber Meister, überwand die ungarische Provinzialität.
    Warum, Széchenyi vielleicht nicht?
    So ist es, Meister, gut gebrüllt, auch er hat sie überwunden. Doch der wahre Graben verläuft auch nicht zwischen den beiden, das ist nur neoneoungarische Unbildung. Esti betrachtete den Flaum, die Professorin begann ihre Vorlesung, Italia als Audimax, Esti als kunsthistorische Rarität. Dass anno, vor neunzig, also wir, dass wir schließlich doch dachten, unsere Taten, unsere guten Taten, unsere Arbeit, all das summiert sich, und zwar summiert es sich zum Wohle des Vaterlandes, es gibt das Vaterland, es gibt das Woh…
    Nur, Esti griff das Wort begeistert auf, darauf ist dieser Belag, dieser Kleister, dieser sozialistische Kleister, wie eine Membran, die zwischen uns und der Kultur steht, schmutziger Nebel, damit wir nicht von Angesicht zu Angesicht sehen, aber bald!, Vaterland in der Höhe!, bis dahin muss man arbeiten, jene baut dieses allem zum Trotz!
    Das gibt es heutzutage nicht mehr, rief die Professorin durchdringend, die heutige Generation …! Esti widerstrebte derartiges Altherrengenörgele, das Ja-zu-meiner-Zeit-Gerede, obwohl mit vollen Formen vielleicht sogar das ging, die Professorin war immer besser, als sie mitunter schien. Am Stadtrand von Bari stand das natürliche und naturwidrige Verschwinden des Patriotismus als natürlicher Gesinnung auf der Tagesordnung, und zwar als Schicksalsfrage und deren zu erwartende Folgen, und wo es vierzig Grad im Schatten sind, dort sind auch die Folgen heftig.
    Da.
    Übermannte sie die Unsicherheit.
    Der Modugno-Schlager durchflutete den Luftraum des Wagens, der Wagen war erfüllt von Tschau-tschau-bambina, Esti und seine Mitfahrer erstickten im Tschau-tschau, nein, im Gegenteil, sie genossen das Tschau-tschau, das wie eine Vivaldi-Ouvertüre ist, also das Leben, wenn auch oberflächlich, als Schauplatz heiterer Ereignisse zeigt, die Menschen darin sind zwar nicht gut, weil es diesen Begriff nicht kennt, aber in Ordnung, angenehm, der Weißwein ist immer gekühlt, die Nudeln sind nicht zu weich, und unsere alte Mutter verströmt nicht diesen unerträglich sauren Geruch, sie stinkt nicht, sagen wir es ruhig, sie ist weise, lieb und vielleicht sogar zuvorkommend reich, Tschau-tschau-bambina.
    Claudia Cserkaszegi jedoch analysierte im Kielwasser des begonnenen Gesprächs bereits den Friedensvertrag Trianon, während sie die vor ihnen ausgebreitete Karte studierte. Esti und Claudia erörterten gern die sogenannten wichtigen Fragen, sie warfen Fragen auf, dann verhandelten sie diese. Später dachte Esti oft daran, ob es angemessen gewesen war, auf dem Weg nach Brindisi, auf dem hoffentlich nach Brindisi führenden Weg ungarische Schicksalsfragen zu verhandeln. Wenn Ungar, dann Schicksalsfrage, wenn Schicksalsfrage, dann Schicksalsfragenverhandlung, wenn Schicksalsfragenverhandlung, dann …
    Trianon als Exerzierplatz des nationalen Selbstmitleides, als Selbsttäuschung der individuellen Tragik unserer Geschichte, denn! Esti wurde den Gedanken nicht los, dass im Hause Cserkaszegi vielleicht doch eher Italienisch gesprochen wurde und dass die Professorin ihr ansonsten akzentfreies Ungarisch vielleicht doch eher aus dem Italienischen zurückübersetzte. Denn, Meister, spätestens mit dem jugoslawischen Krieg musste jedes aufrührerische Herz, zu dem sich auch nur eine Spur Verstand gesellte, einsehen, es hat sich erledigt, diese historische Träumerei hat sich erledigt.
    Esti konzentrierte sich auf Brindisi.
    Nichtsdestotrotz, Meister, hast du schon einmal daran gedacht, was du fühlen, was du denken, was du hoffen, was du tun würdest, wenn das heutige Ungarn auf sein Drittel zusammenschrumpfte? Sagen wir auf das Dreieck Vác–Fehérvár–Cegléd, und das würden wir in Zukunft Ungarn nennen. Nun, Meister? Vác, Fehérvár, Cegléd, Brindisi, das war zu viel. Das braucht Zeit, dieses neue Dreieck, das kann man nicht sofort verstehen. Dass man die Villányer Weine aus dem Ausland importieren muss. Dass wir nicht einmal die Gebirge haben, die wir bisher hatten. Dass niemand öht, ich habe Ördbören gegössen, höchstens wenn ein Verwandter aus Szöged hier geblieben ist. Eine holde entfernte Cousine. Akzeptieren oder, was im Wesentlichen dasselbe ist,

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