Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod

Titel: Ethik: Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Huber
Vom Netzwerk:
Christoph Meiners erläuterte im Jahr 1801 sein Verständnis der Ethik dadurch, dass er sie als «Lebenswissenschaft» bezeichnete. Für die Naturwissenschaften dagegen wurde das Wort erst mehr als einhundert Jahre später gebraucht: 1930 bezeichnete der Wiener Biologe Ludwig von Bertalanffy die Biologie als «Lebenswissenschaft»; davon ausgehend entwickelte er eine Systemtheorie, die darauf zielte, die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften zu überwinden (Markschies 2005: 6f.). Hier beginnt bereits eine Tendenz, den Begriff der Lebenswissenschaftenzu entgrenzen, und es gibt in der Wissenschaft eigentlich nichts mehr, was nicht auch als Lebenswissenschaft bezeichnet werden könnte: nicht nur Biologie und Medizin, sondern auch Agrar- und Forstwissenschaften, aber auch Literaturwissenschaft, Geschichte, Theologie und andere mehr.
    Es geht hierbei nicht um einen Vorteil in der Hierarchie der Wissenschaften und damit ihrer finanziellen Förderung. Wichtiger ist die wissenschaftstheoretische Aussage, die in der Bezeichnung als Lebenswissenschaft enthalten ist, denn sie beruht auf der Voraussetzung, dass das Verhältnis menschlichen Handelns und deshalb auch wissenschaftlicher Erkenntnis zum Leben und zum Tod nicht symmetrisch ist.
    Zwar kann man gegenwärtig auf Deutungen der menschlichen Selbstbestimmung stoßen, nach denen diese in gleicher Weise auf den Tod wie auf das Leben gerichtet ist (vgl. Kapitel 20). Doch die Aufgabe, mit dem Tod als der Grenze des Lebens umzugehen, steht selbst im Dienst des Lebens. Dass die Medizin sich der Aufgabe stellt, unnötiges Leiden und Sterben zu vermeiden und die Todesgrenze hinauszuschieben, lässt sich nur aus einem Vorrang des Lebens vor dem Tod erklären. Auch in der religiösen Vorstellung einer Auferstehung der Toten kommt dieser Grundzug zur Geltung. Der Vorrang des Lebens vor dem Tod begründet eine Lebensgewissheit, die durch Zuversicht und Hoffnung bestimmt ist.
    Auch für die Wissenschaft ist eine solche elementare Lebensgewissheit von großer Bedeutung. Zwar werden Wissenschaftler methodisch zur Skepsis angehalten, doch der Antrieb all ihres Tuns ist die Zuversicht, Wahrheit zu erkennen, bisher Unerklärtes zu erklären und bisher Unverstandenes zu verstehen. Wissenschaft ist darauf ausgerichtet, Grenzen zu überschreiten, die der Erkenntnis bisher gesetzt sind; doch sie steht im Dienst des Lebens, dessen Grenzen hinausgeschoben, jedoch nicht aufgehoben werden können.
    Unter ethischer Perspektive hat deshalb nicht nur der Wahrheitsbezug, sondern auch die Nützlichkeit von Forschungsresultaten eine positive Bedeutung. Diese ergibt sich aus der Orientierung menschlichen Handelns am Mitmenschen und an der Frage, was ihm zugute kommt. So wird die Chance, neue Heilungsmöglichkeiten für bisher unheilbare Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson, Herzinfarkt oder Multiple Sklerose zu finden, als Begründung für neuartige Forschungsmethodenherangezogen. Dies geschieht grundsätzlich zu Recht. Doch der Verweis auf Möglichkeiten des Heilens und Helfens darf nicht zur Rechtfertigung von Handlungen dienen, durch die der Mensch nicht mehr als Person geachtet, sondern verdinglicht wird. Deshalb ist ethisch zu fordern, dass zu solchen wissenschaftlichen Vorgehensweisen, die wegen der Gefahr der Verdinglichung des Menschen problematisch sind, Alternativen gesucht werden, die dieser Gefahr nicht oder weniger ausgesetzt sind. Die Forschung mit adulten statt mit embryonalen Stammzellen oder der Zugang zu Stammzellen mit vergleichbaren Eigenschaften ohne den Weg über die Herstellung menschlicher Embryonen sind Beispiele hierfür.
Wissenschaft und die Verführbarkeit des Menschen
    Die Fortschritte der Wissenschaft sind zugleich eindrucksvoll und verführerisch. Sie können Menschen dazu verleiten, die Herrschaft über das Leben oder gar über das Universum für sich in Anspruch zu nehmen. Wenn Wissenschaft angesichts ihrer ausgreifenden Möglichkeiten menschliches Maß bewahren soll, muss der Mensch zwischen sich und Gott unterscheiden können. Moderne Wissenschaft macht für diese Unterscheidung keineswegs blind; sie kann für sie sogar die Augen öffnen – unter der Voraussetzung, dass auch in moderner Wissenschaft die Bereitschaft zu epistemischer Demut (also zur Demut im Blick auf das eigene Wissen) gewahrt bleibt. Auch wenn wir die Grenzen des Wissens in erstaunlicher Weise hinausschieben, werden wir niemals alles wissen. Epistemische Demut meint die Erkenntnis, dass unser

Weitere Kostenlose Bücher