Ethik: Grundwissen Philosophie
Moraltheorien, die ich hier vorgetragen habe, ebenso der Fall. So geht der Kontraktualismus von Peter Stemmer stets von einer Gesellschaft aus, die nicht mehr theozentristisch ist und in der darum das richtige moralische Handeln nicht von Gottes Gnade abhängig sein kann. Im Laufe der Zeit hat sich somit doch eine andere als die ursprüngliche Siegerposition durchgesetzt.
Hobbes ging im 17. Jahrhundert noch wie Augustinus davon aus, dass der Mensch von Natur aus böse ist. Auch der Theodizee-Gedanke konnte Gott als den Schöpfer einer Welt, in der Böses vorkommt, rechtfertigen, denn Gott hatte nach Leibniz (1646–1716) unter allen möglichen Welten noch die beste ausgewählt und sie zur Wirklichkeit gebracht. [77] Rousseau (1712–1778) war der Auffassung, dass der Mensch von Natur gut sei, Kant hingegen, dass es das Böse im Menschen gebe, er jedoch qua seiner praktischen Vernunft in der Lage sei, es zu überwinden.
Das alltägliche abweichende Verhalten
Wie bereits ausgeführt, unterscheidet Kant das »principium executionis« (Prinzip der Ausführung) und das »principium diiudicationis« (Prinzip der Beurteilung); die Einsicht in die Richtigkeit des moralischen Handelns wird von dem Motiv unterschieden, tatsächlich moralisch zu handeln. Motive, nicht moralisch zu handeln, sind allerdings nicht erst seit Kant, sondern von alters her bekannt. Die Schandtaten des Catilina wurden laut Augustinus durch sein Streben nach Macht und Reichtum motiviert. (Vgl. Augustinus 1982, 63) Auch der Druck der Peergroup, etwa wenn Jugendliche nur aus Freude an der verbotenen Tat einen Birnbaum plündern, motiviert zu unmoralischen Handlungen: »Wenn es nur heißt: Komm, tun wir das! Schämt man sich, nicht schamlos zu sein.« (Augustinus 1982, 68) Des Weiteren kann die Omnipotenzfantasie, Herr über Leben und Tod zu sein, ein Antrieb dafür sein, sich gegen die Moralordnung aufzulehnen und zum Mörder zu werden. (Vgl. Augustinus 1982, 66)
Die von Augustinus angeführten Motive, nicht moralisch zu handeln, sind uns heute nicht fremd. Man handelt unmoralisch, obwohl man die Regeln, die man befolgen müsste, kennt und von deren Richtigkeit überzeugt ist. Man lehnt beispielsweise das Schlagen und Demütigungen anderer ab, weil man weiß, dass das unmoralisch und unrecht ist, zumal man selbst lange Opfer solcher Handlungen war. Dennoch greift man selbst zu diesen Formen der Auseinandersetzung, um die eigenen »Demütigungserfahrungen [zu] durchbrechen und dadurch das eigene Selbstbild schützen zu [78] können« (Silkenbeumer 2007, 248). Auch das ist ein Motiv, eine moralische Regel, die man für richtig hält, nämlich die physische und psychische Integrität anderer Menschen zu achten, nicht zu befolgen. Ein anderer Fall: Man weiß um die Verpflichtung, einem Menschen, der auf der Straße attackiert wird, zu helfen. Man kommt ihr aber aus Angst, selbst angegriffen zu werden, nicht nach. Manchmal ist es auch Bequemlichkeit, wenn man nicht behilflich ist: »Ach, ich habe jetzt keine Lust, der alten Nachbarin die Tasche hochzutragen. Es ist so schön, in der Sonne zu liegen. Ich tue einfach so, als wenn ich sie nicht gesehen hätte.« Ferner kann Rache ein Motiv sein, unmoralisch zu handeln: »Der Nachbar hat mich so oft geärgert. Sollen seine Blumen doch vertrocknen. Ich gieße sie nicht, obwohl ich es ihm versprochen habe.« Es gibt noch viel mehr Motive, nicht moralisch zu handeln. Solche Motive sind uns Menschen als unvollkommenen moralischen Wesen vertraut und unserer Schwäche geschuldet. Immanuel Kant sagte, dass es ein irdisches Geschöpf nie dazu bringen könne, vollkommen moralisch zu sein. (KpV A 149) Während Gott und die Engel keine Moral brauchen, weil sie tugendhaft seien, seien die Menschen hingegen lasterhaft. (Vgl. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 39) Daraus folgt, dass man gar keine moralischen Regeln brauchte, wenn die Menschen moralisch wären.
Wir reden heute von moralischer Motivation, wo wir früher von Tugenden gesprochen haben. Weil die Motivation in den ethischen Erörterungen bisher nicht hinreichend berücksichtigt wurde, erleben wir in der Philosophie seit einiger Zeit eine Renaissance der Tugendethik. (Vgl. Pauer-Studer 2003, 55ff.; Rippe/Schaber 1998, 9)
[79] Das radikale Böse
Das alltägliche Abweichen vom moralisch richtigen Verhalten wird übertroffen vom unbegreiflich Bösen, von dem wir – wie Habermas anmerkt – allzu wenig wissen. »Wir wissen nicht, wozu Menschen überhaupt
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