Ethik: Grundwissen Philosophie
fähig sind.« (Habermas 2001, 195) Wir haben durch Auschwitz erstmals eine Ahnung davon bekommen. Die Taten vom 11. September 2001 in New York, 11. März 2004 in Madrid und Juli 2005 in London konnte man ebenso wenig erwarten oder vorhersehen wie Auschwitz. Man spricht vom »radikal Bösen«. Ein bemerkenswerter Satz in Susan Neimans Buch
Das Böse denken
lautet: »Was in Auschwitz scheinbar zu Bruch ging, ist die Möglichkeit, intellektuell darauf zu reagieren. Das Denken wurde gelähmt, denn sowenig die Werkzeuge der Zivilisation fähig waren, das Ereignis zu verhindern, so wenig sind sie in der Lage, damit umzugehen.« (Neiman 2004, 376) Es gibt ein Geschehen, das dem Denken Grenzen setzt, das nicht verstehbar ist, von dem Hannah Arendt in völliger Fassungslosigkeit immer wieder sagt, dass es nie hätte geschehen dürfen. (Vgl. Arendt 1996, 59, 60; 2002, 7)
Auch andere Überlegungen zum radikal Bösen sind Ausdruck von Hilflosigkeit. Hat sich daran nach den Ereignissen von New York, Madrid und London viel geändert? Das kann man nicht sagen. Schon Arendt gestand in einem Brief an Karl Jaspers ein: »Was das radikal Böse nun wirklich ist, weiß ich nicht. […] Die modernen Verbrechen sind im Dekalog nicht vorgesehen. Oder: Die abendländische Tradition krankt an dem Vorurteil, daß das Böseste, was der Mensch tun kann, aus den Lastern der Selbstsucht stammt; während wir wissen, daß das Böseste oder das radikal Böse mit solchen menschlich begreifbaren, sündigen Motiven gar nichts mehr zu tun hat.« (Arendt 1985, 202f.) Das ist eine Kritik an der abendländischen Tradition, denn Kant hat das Böse noch auf die Selbstsucht des Menschen zurückgeführt. In seiner Abhandlung
Über das radikal Böse in der menschlichen
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Natur
spricht er von der Selbstsucht als Ursache des radikal Bösen. (B 17) Und Selbstsucht und moralisches Gesetz können in einem Menschen nicht nebeneinander bestehen. (B 35) Darum fügt er hinzu: »Was der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse, dazu muß er sich selbst machen, oder gemacht haben. Beides muß eine Wirkung seiner freien Willkür sein; denn sonst könnte es ihm nicht zugerechnet werden, folglich er weder moralisch gut noch böse sein.« (B 49)
Auch Arendt nähert sich – trotz ihrer gegenteiligen Behauptung – allmählich dem an, was das radikal Böse ist. Sie sagt: »Das spezifisch Böse der Gewalt ist ihre Stummheit.« (Arendt 2002, 345) Das Böse besteht in der Verweigerung oder Bekämpfung der Pluralität. Daran, dass diese Pluralität nicht bedacht wurde, seien die Philosophen nicht ganz unschuldig, denn die abendländische Philosophie sprach immer »von
dem Menschen
« und hat »die Tatsache der Pluralität nebenbei behandelt« (Arendt 1985, 202f.). Die abendländische Philosophie habe die anthropologische Bedeutung der Pluralität nicht ernst genommen, und in der Person von Adolf Eichmann hat Arendt die völlige Negierung und Zerstörung der Pluralität erkannt.
Auf den Terror, der in den heutigen Tagen ja unser aller Problem ist und sich in qualitativer und quantitativer Hinsicht weltweit steigert, bezieht Arendt ihre These ebenfalls, wenn sie schreibt: »Dem Terror gelingt es, Menschen so zu organisieren, als gäbe es sie gar nicht im Plural, sondern nur im Singular, als gäbe es nur einen gigantischen Menschen auf der Erde, dessen Bewegungen in den Marsch eines automatisch notwendigen Natur- und Geschichtsprozesses mit absoluter Sicherheit und Berechenbarkeit einfallen.« (Arendt 1985, 714) Dieser Sichtweise schließt sich Neiman in ihrem Buch an: »Naturkatastrophen sind blind für moralische Unterscheidungen, die selbst die rohe Gerechtigkeit macht. Der Terrorismus verstößt bewusst dagegen. […] Wie Erdbeben schlagen Terroristen von ungefähr zu: Wer lebt, wer stirbt, [81] hängt von Zufällen ab, die weder verdient noch zu verhindern sind.« (Neiman 2004, 412)
Wen wollen sie treffen? Es sind nicht die Menschen. Die sind den Terroristen egal. Sie wollen einen Anonymus treffen, wie Arendt und Neiman schreiben. Peter Fuchs geht sogar noch einen Schritt weiter: »Das terroristische Morden nimmt nicht im Interesse einer Hauptintention den Tod und die Verstümmelung Unschuldiger billigend in Kauf. Dieser Nebeneffekt ist der
gesuchte
, der
erwünschte
Effekt, weil nur er dauerhaft gesellschaftliche Kommunikation irritiert, insofern niemand sich (sozusagen durch Unschuld geschützt) sicher fühlen kann. Kurz: Kollateralschäden
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