Eulen
Schuhe in die Ecke und rannte davon. Diese Szene wiederholte sich dann noch öfter in der Chronik der Familie Leep.
Lonna kam mit ihrem Sohn überhaupt nicht zurecht und nörgelte ständig an ihm herum. Beatrice kam es so vor, als hätte Lonna Angst, ihr frisch gebackener Ehemann könnte sich über das Benehmen ihres Sohnes ärgern, dabei schien Leon gar keine Notiz von ihm zu nehmen. Ab und zu machte er einen halbherzigen Versuch, sich dem Jungen anzunähern, aber die beiden hatten wenig gemein. Für Leons große Leidenschaften – Sport, Fastfood und Fernsehen – interessierte sich der Junge absolut nicht, er verbrachte seine ganze freie Zeit damit, durch die Wälder und Sümpfe zu streifen.
Einmal brachte Lonnas Sohn ein verwaistes Waschbärenbaby mit nach Hause, das prompt in einen von Leons Lieblingsschuhen aus feinem Leder kroch und sich darin erleichterte. Leon schien eher überrascht als sauer, aber Lonna ging in die Luft wie eine Rakete. Ohne mit ihrem Mann darüber zu reden, suchte sie für ihren Sohn einen Platz an einer Kadettenanstalt. Das war der erste von mehreren gescheiterten Versuchen, ihren Sohn zu »normalisieren«, wie sie es nannte.
Selten hielt er es länger als zwei Wochen irgendwo aus, bevor er wegrannte oder rausgeworfen wurde. Als das zum letzten Mal passierte, sagte Lonna ihrem Mann absichtlich nichts davon. Stattdessen tat sie weiter so, als ginge es ihrem Sohn gut – er habe gute Noten, erzählte sie, und sein Verhalten werde immer besser.
In Wirklichkeit wusste Lonna gar nicht, wo ihr Sohn überhaupt steckte, und sie hatte auch nicht die Absicht, nach ihm zu suchen. Sie hatte »die Nase voll von dem kleinen Monster«, jedenfalls hörte Beatrice, wie Lonna das am Telefon zu jemandem sagte. Und Leon Leep zeigte an dem Jungen keinerlei Interesse; was seine Frau ihm über ihren missratenen Sprössling erzählte, reichte ihm völlig. Leon merkte nicht einmal, als die Kadettenanstalt keine Rechnungen mehr für das Schulgeld schickte.
Lange bevor seine Mutter ihn zum letzten Mal wegschickte, hatten der Junge und seine Stiefschwester stillschweigend ein Bündnis geschlossen. Als Lonnas Sohn wieder in Coconut Cove auftauchte, war Beatrice der erste und einzige Mensch, zu dem er Kontakt aufnahm. Sie war auch der Meinung, dass es besser sei, nicht zu verraten, wo er sich aufhielt, denn sie wusste, sobald Lonna dahinter käme, würde sie nur das Jugendamt einschalten.
Um genau das zu verhindern, hatte sich Beatrice Roy vorgeknöpft, als sie gesehen hatte, wie er ihrem Stiefbruder hinterhergerannt war. Sie tat, was jede große Schwester getan hätte.
Während ihrer gemeinsamen Fahrt auf dem Rad bekam Roy jedenfalls so viel von der Familiengeschichte mit, dass er die schwierige Situation begriff. Und als er die Wunde des Jungen sah, verstand er auch, wieso Beatrice gleich losgerannt war, um Hilfe zu suchen, als sie ihren Bruder stöhnend im Eiswagen gefunden hatte.
Es war das erste Mal, dass Roy den Jungen aus der Nähe und von Angesicht zu Angesicht sehen durfte. Ausgestreckt lag er da, ein zerdrückter Karton diente ihm als Kopfkissen. Sein strohblondes Haar war matt vom Schweiß, seine Stirn fühlte sich heiß an. Der ruhelose, flackernde Blick des Jungen erinnerte ihn irgendwie an den eines Tieres.
»Tut es sehr weh?«, fragte Roy.
»Nee.«
»Lügner«, sagte Beatrice.
Der linke Arm des Jungen war rotviolett verfärbt und angeschwollen. Zuerst dachte Roy an einen Schlangenbiss und schaute sich besorgt um. Aber zum Glück war die Tüte mit den Wassermokassins nirgends zu sehen.
»Auf dem Weg zum Bus bin ich heute Morgen kurz vorbeigekommen und da hab ich ihn so gefunden«, erklärte Beatrice. Dann wandte sie sich an ihren Stiefbruder: »Komm schon, erzähl dem Cowgirl, was passiert ist.«
»Ein Hund hat mich erwischt.« Der Junge drehte seinen Arm um und zeigte auf mehrere knallrote Stellen, wo eindeutig ein Hund zugelangt hatte.
Die Bisswunden waren schlimm, aber Roy hatte schon Schlimmeres gesehen. Als sein Vater ihn einmal zu einer Landwirtschaftsausstellung mitgenommen hatte, war dort ein Rodeo-Clown von einem in Panik geratenen Pferd angefallen worden. Der Clown hatte so heftig geblutet, dass er mit dem Hubschrauber ins nächste Krankenhaus gebracht werden musste.
Roy machte seinen Rucksack auf und holte das Erste-Hilfe-Material heraus. Seit er in Montana an einem Sommerlager teilgenommen hatte, kannte er sich ein bisschen aus mit der Behandlung von offenen Wunden. Beatrice
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