Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
während des Krieges von britischen Bomberverbänden angegriffen wurde.
Ich schlug das Buch auf. Auf der ersten Seite war eine Kirche abgebildet. Ich betrachtete die Aufnahme, als plötzlich eine Energie an mir riss, meine Sicht verklärte und mich in einen Emotionsstrudel zog. Adrenalin schoss durch meinen Körper. Bilder aus längst vergangenen Zeiten stiegen in mir auf. Ein Bahnhof brannte. Ohrenbetäubendes Krachen. Auf dem Bahnsteig stiegen Personen aus einem Zug. Einer Frau wurde durch eine Explosion ein Bein weggerissen. Schnitt.
Ich hörte Sirenen und Glockengeläut. Während feindliche Flieger die Stadt bombardierten, betete ich in einer Kirche. Die Mauern erbebten, das Gotteshaus drohte jeden Moment einzustürzen. Als der Angriff vorüber war, sah ich mich von Ruinen umgeben. Schnitt.
Die Luft roch brandig. Angebrannte Papierschnitzel fielen auf die Erde. Schnitt.
Flugzeuge kreisten dicht über den Baumwipfeln. Flieger schauten aus ihren Kanzeln heraus. Ihre Maschinengewehre direkt auf mich gerichtet, schossen sie.
Nein! Bitte … bitte nicht … nein!
Schweiß rann über mein Gesicht. Mein Brustkorb verengte sich.
Ich schrie. Ich schrie noch lauter. Dann rang ich nach Luft. Und blickte in die angstgeweiteten Augen meines Bruders.
»Schwesterchen, wach auf. Hey Mae. Beruhig dich. Es ist alles OK.« Nik hockte neben mir auf dem Boden und strich mir überden Kopf. Völlig konfus klammerte ich mich schluchzend an seinen Arm. Durch den Tränenschleier erkannte ich mein Zimmer. Ich war zu Hause. Keine Soldaten, die auf mich schossen. Da war mein weißes Himmelbett. Darüber das Tokio Hotel »Room 483« Plakat. Meine Harry Potter-Bücher auf den pinken Regalbrettern. Die türkise Lavalampe, die Vio mir aus London mitgebracht hatte. Mein Schreibtisch mit meinem schwarzen Notebook, darüber die Pinnwand mit bunten Notizen, Spaßfotos und zerfledderten Konzerttickets.
Nik sprach immer noch beruhigend auf mich ein. Es gab keinen Grund weiterhin Todesangst zu haben. Mein Herz schlug immer noch wie wild.
»Was … was ist passiert?«, krächzte ich.
»Du hast geschrien. Als ich zur Tür reinkam, lagst du auf dem Boden. Du hast es nicht mehr bis ins Bett geschafft.«
Langsam richtete ich mich auf. »Ich …« Mein Rachen fühlte sich kratzig an. Ich räusperte mich. »Ich hab geträumt … geträumt, dass ich im Krieg bin. Soldaten wollten mich erschießen. Das war alles so wirklich, Nik.«
Meine Herzschläge beschleunigten sich erneut.
»Hier sind keine Soldaten, Mae. Du bist zu Hause … in Sicherheit.« Niks Stimme nahm einen tröstlichen Klang an. »Es war nur ein blöder Albtraum. Nichts weiter.«
Ich versuchte, seinen Worten zu glauben. Aber es gelang mir nicht. Die gleichen Zweifel überkamen mich, wie bei der Sache mit Curly. Irgendetwas stimmte nicht an dieser Wahrheit.
»Mae.« Niks Stimme war ernst und besorgt. »Liegt es an dem Stress mit Pascal?« Mit forschender Miene musterte er mich. Als ich nicht reagierte, setzte er erneut an. »Du weißt, ich bin immer für die da. Zu jeder Tag und Nachtzeit.«
»Danke Nik«, presste ich hervor. »Es geht mir schon wieder besser«, flunkerte ich.
Nik legte den Kopf schief und schaute mich zweifelnd an. »Echt«, sagte ich nachdrücklich.
»Na gut.« Nik zog mich hoch. Er ging zur Tür. »Ich kann auch meine Matratze rüber schleppen und heute Nacht hier pennen.«
»Ähm … ist schon OK. Aber Nik … das bleibt doch unter uns?« Unsere Eltern waren an diesem Abend bei einer Theateraufführung.Mir wäre es peinlich gewesen, wenn Nik ihnen etwas über den Zwischenfall gesagt hätte.
Nik grinste schief. »Na klar. Großes Zwillingsehrenwort.«
Dann schlurfte er in sein Zimmer.
Meine innere Unruhe war immer noch nicht ganz verflogen, als ich den karierten Pyjama überzog. Beruhigend sagte ich mir, dass alles so wie immer wäre. Aber war das so?
Als ich in den Badezimmerspiegel schaute, zierten rote Hektikflecken mein Gesicht. Fast wäre ich erleichtert gewesen, denn dies war wenigstens eine Beständigkeit in meinem Leben. Ich kämmte meine Haare und ging zurück in mein Zimmer. Das Buch lag immer noch auf meinem Schreibtisch. Nervös fingerte ich am Ärmel meines Schlafanzugs. Etwas Lauerndes ging von ihm aus, als würde es nur darauf warten, sich auf mich zu stürzen. Ich kuschelte mich in die Bettdecke. Der vertraute Waschpulvergeruch lag in meiner Nase und vermittelte mir Geborgenheit.
Trotzdem fühlte sich ein Teil von mir immer noch schutzlos
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