Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
letzte Gebet und dann ging die Trauergemeinde der Reihe nach zum Grab, um Erde zu streuen oder Blumen auf den Sargdeckel als letzten Gruß zu werfen. Viel zu schnell waren wir an der Reihe. Ich konnte es nicht fassen, dass dies das Letzte sein sollte, was ich für meine Freundin tat. Meine klammen Finger glitten unruhig in mein Haar und hoben das Geflecht aus Sonnenblumen von ihm herab. Nik hielt einen Beutel Sand mit Muscheln in der Hand. Geräuschvoll schlug der Beutel auf dem hölzernen Sargdeckel auf. Als ich an der Reihe war, verstärkte sich Niks Griff, mit dem er mich hielt. Er schaute zu mir und nickte traurig. Ich rang mit der Fassung, während ich mich langsam vorbeugte, und in den Schacht hinab blickte, auf den Sarg. Meine Augen schweiften zur linken Seite, zu Vios Grabstein und die darin eingemeißelten Worte.
Viola Ann Thömmes, Geliebte Tochter, 12. Mai 1989 – 1. Mai 2008, Du bist nicht tot, Du wechselst nur die Räume. Du lebst in uns und gehst durch unsere Träume
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Der Kranz rutschte mir aus den Fingern und durch mein dumpfes Schutzschild drang ein schneidender Schmerz, der mein Herz zu entzweien drohte. Meine Beine zitterten und sackten weg. Ich strauchelte, aber Niks Arme hielten mich sicher umklammert, bewahrten mich davor nach vorne zu kippen. Behutsam führte er mich an die Seite, wobei meine Zähne unkontrolliert aufeinander schlugen. An Adrianas, Curlys und Fabios Grabgang konnte ich mich nicht mehr entsinnen, als ich sie neben mir stehen sah. Curlys Hand ruhte auf meiner Schulter. Mir war, als belebte ihre Berührung meinen Körper, ich spürte neue Kräfte in mir, konnte mit einem Mal wieder fest auf beiden Beinen stehen. Ich schaute zurück zum Grab. Sam, Frau von Bingen und Konrad standen dort. Alle drei ganz in schwarz gekleidet. Bei Konrad wirkte es fast normal, aber Frau von Bingen trug einen großen Schleierhut, unter dem ihre roten Locken, dramatisch hervortraten. Um Konrads Hals baumelte das schwere glitzernde Amulett, das erkrampfhaft umklammerte, und auch auf seiner Schulter lag Frau von Bingens Hand, ebenso wie Curlys auf meiner. Konrad wirkte verändert, sein leichenblasses Gesicht war völlig ausdruckslos. Seine Gesichtszüge erschienen mir viel schärfer, die Schultern breiter, ja, seine gesamte Statur wirkte wesentlich kompakter, als ich sie in Erinnerung hatte. Nervös wühlte er in seiner Jackentasche, zerrte eine Kette mit einem Anhänger hervor und fummelte offenbar vergeblich daran herum. Sam bemerkte seine erfolglosen Versuche, trat neben ihn und zog den Anhänger für ihn in zwei Teile auseinander. Danach legte er die Kette und den zweigeteilte Anhänger behutsam zurück in Konrads Handfläche. Sam stellte sich hinter ihn, seine Hände schützend auf Konrads Schultern. Sam und Konrad trugen die gleichen schwarzen Anzüge, die garantiert maßgeschneidert waren. Wäre es kein so furchtbarer Anlass gewesen, hätte man meinen können, Sam käme frisch gestylt vom Laufsteg. Selbst auf einer Beerdigung konnte ich seine unglaubliche Schönheit und die Sehnsucht nach ihm nicht ignorieren. Konrads Blick war gesenkt, als er vor Vios Grab in der matschigen Erde kniete, einen Teil des Anhängers an seine Lippen führte, dabei die Lider schloss und ihn küsste. Zögernd beugte er sich nach vorne, seine Lippen bewegten sich, aber ich konnte ihn nicht verstehen, dann fiel das Stück Metall auf den Ahornsarg.
»Mae, komm.« Niks Arm umschlang meine Schultern und drückte mich sachte in die Richtung des Ausgangs. »Komm jetzt, die anderen warten schon vor dem Friedhof.«
»Geh ruhig schon mal vor. Ich komme gleich nach.« Ich schaute wieder zum Grab, an dem nun nur noch Konrad und Sam standen.
»Ich möchte noch kurz mit Konrad reden.« Mein Bruder nickte langsam, übergab mit den Regenschirm und wandte sich zum Gehen, selbst Vios Eltern hatten bereits den Friedhof im immer noch strömenden Regen verlassen.
»Konrad«, flüsterte ich zögerlich. Ich blieb ein Stück von ihm entfernt stehen und blickte ihn scheu an. Die Veränderungen an ihm waren offensichtlich – oder bildete ich sie mir nur ein? Seine fließenden Gesichtsformen schienen kantiger, der Kehlkopf zeichnete sich an seinem breiten Hals deutlich ab, Aderndurchzogen sichtbar seine sehnigen Hände. Mechanisch drehte er sich zu mir, auf der Höhe seiner Brust schimmerte die eine Anhängerhälfte. Das Yin-Zeichen. Ich schlotterte nervös, denn ich kannte diesen Konrad. Ich sah vor mir den Konrad aus meinem Traum, den
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