Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
Gesicht. Ich kniff die Augen zu und genoss das kraftvolle Prasseln auf meiner Haut, mein Körper kribbelte und peu a peu kehrte mein Lebensgeist zurück. Ich wusste, Vio hätte nicht gewollt, dass ich Trübsal blase, sie hätte mich an den Schultern gepackt und gesagt: »Hey Mae, es geht immer irgendwie weiter. Jetzt lass dich bloß nicht hängen.« Ich drehte das Wasser ab, stieg aus der Dusche und rubbelte mich mit einem Handtuch trocken. Ich nahm mir vor, Vios Wunsch so gut ich konnte zu erfüllen. Als ich fertig angezogen war, saß ich am Schreibtisch und betrachtete Sams Zeichnung, die immer noch neben meinem Notebook lag und nun von der Sonne beschienen wurde. Ich sollte nach draußen gehen, ich war schon viel zu lange nicht mehr an der frischen Luft gewesen. Entschlossen zog ich meine Chucks an und ging runter. An der Garderobe warf ich mir eine Sweat-jacke über und verließ das Haus. Nik nutzte das Wetter um
Sid
auf Hochglanz zu bringen und meine Eltern saßen auf der Bank unter unserem Küchenfenster.
»Mae, willst du weg?«, fragte Mam überrascht und auch mein Vater runzelte verwundert die Stirn.
»Ja … ich brauche mal wieder etwas frische Luft.« Ich vergrub meine Hände in den Taschen der Jeanshose.
»Soll Nik mitkommen?«, schaltete sich nun mein Vater ein, sichtlich besorgt.
»Nein«, wehrte ich ab und zog das Handy aus der Hosentasche. »Ich bleibe in der Nähe. Es wird nur ein kleiner Spaziergang, bin bald wieder da. Mein Handy habe ich auch dabei.« Ich wedelte zum Beweis mit dem schwarzen Mobiltelefon durch die Luft.
Begeistert schienen sie nicht zu sein, doch sie ließen mich ohne weitere Einwände gehen. Als ich unser Grundstück verließ, bog ich nach rechts auf dem Bürgersteig ab, ohne zu wissen, wohin mich mein Weg führte. Zuerst kam ich an Vios Elternhaus vorbei. Mein Herz stolperte, ihr gelber Bully stand vor der Garage, als wäre nichts geschehen. Die Versuchung war groß, mich dieserIllusion hinzugeben, aber die verschlossene Garage zeigte mehr als deutlich, dass etwas anders war. Normalerweise würde sie jetzt in ihrer Jeanslatzhose, mit einem Bandana auf dem Kopf an der Schleifmaschine stehen und die halbe Straße mit Surf-Vibes beschallen. Aber heute war es ruhig, viel zu ruhig. Ich schaute hinauf zu Vios Fenster und registrierte eine Bewegung hinter den Gardinen. Ich senkte den Blick und setzte meinen Weg mit hängenden Schultern fort, immer die Straße entlang. Ihre armen Eltern. Wie sie sich wohl fühlten? Sie taten mir so leid und ich wusste nicht, was ich hätte für sie tun können. Ich überquerte eine Straße und trottete den sandigen Feldweg zur Pferdekoppel entlang, erspähte bald fünf Friesen, deren staubiges Fell gräulich schimmerte. Die schönen Tiere dösten in der Mittagssonne und ließen ihre Unterlippen hängen. Außer ihrem vereinzelten Schnauben war nur das Gezwitscher der Vögel zu vernehmen. Neben dem Gatter setzte ich mich auf die alte blecherne Futterkiste, beobachtete die Pferde und versuchte an gar nichts zu denken. Ich tauchte in einen nahezu meditativen Zustand ein, meine Beine baumelten vor und zurück. Unerwartetes Wiehern katapultierte mich wieder in die Wirklichkeit, die Friesen stoben auseinander und jagten in wilden Galoppsprüngen über die Weide. Die Vibrationen ihrer Hufe spürte ich deutlich auf dem Metalldeckel der Kiste. Wirsch fuhr ich mir über die Augen, mein Gehirn nahm seine Aktivität wieder auf. Grüblerisch betrachtete ich meine Handflächen, in denen senkrechte und waagerechte Linien und Rillen verliefen. Ich wusste, dass jede einzelne Linie eine genaue Bezeichnung hatte und auf dem hiesigen Jahrmarkt eine Handleserin arbeitete, die aus der Handform und den Linien, Weissagungen zum Schicksal eines Menschen machte. Es gab eine Herzlinie, eine Kopflinie, eine Schicksalslinie und eine Lebenslinie. Nachdenklich zog ich mit dem rechten Zeigefinger den gut geschwungenen Bogen meiner Lebenslinie in der linken Handfläche nach. Hätte eine Handleserin Vios Schicksal vorhersagen können? Sah Vios Lebenslinie anders aus, war sie vielleicht unterbrochen? Ich schüttelte den Kopf, ließ die Hände sinken und seufzte laut. Spekulationen erweckten Vio auch nicht wieder zum Leben. Wie es Konrad wohl ging? Unser Gespräch kam mir wieder in den Sinn, seine Aussage zu Yin und Yang. Ich schluckte.Armer Konrad, Vios Tod musste schrecklich für ihn sein, noch schrecklicher vielleicht, als er es für mich war. Wahrscheinlich fühlte er sich auch
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