Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
anders aussieht. Mich wundert nur, warum es niemand außer mir zu bemerken scheint. Konrad sieht aus, wie der Konrad aus meinem Traum, als ob er über Nacht bei Dr. Frankenstein in Behandlung gewesen ist. Insgeheim hoffe ich ja auf Adri. Sie müsste es doch auch bemerken, und wenn sie mich dann darauf anspricht, könnte ich ihr sofort zustimmen, ohne einen Stempel mit der Aufschrift »Leicht irre« auf meiner Stirn zu riskieren. Aber vielleicht macht das auch der Tod eines geliebten Menschen mit uns. Es kann ja sein, dass ein traumatisches Erlebnis Gesichter verhärtet, aber dann bliebe immer noch die Frage offen, was dazu geführt hat, dass Konrads Statur sich von heute auf morgen verändert hat. Und natürlich die Frage, wie konnten Sam undKonrad noch vor allen anderen in der Station auftauchen, wenn sie doch, laut Vio, verreist waren? Vielleicht sind sie unerwartet früh zurückgekehrt, waren abends zufällig am Strand und haben dann die Suchtruppe getroffen und von ihnen die Nachricht bekommen. Das wäre die Erklärung für ihr Auftauchen. Bestimmt war es so, bei der nächsten passenden Gelegenheit werde ich Sam darauf ansprechen. Ich werde es herausfinden
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Wir treffen uns heute Nachmittag zum Surfen am Ordinger-Strand. Vio hätte sich eine Beach-Geburtstagsparty gewünscht. In meinem Zimmer stehen sechs Sonnenblumen in einer großen Glasvase, eine werde ich mit an den Strand nehmen, sie an meinen Surfmasten binden. Die anderen fünf sind für Vios Grab, jeden Tag gehe ich zu ihr und lege eine Sonnenblume auf ihren Grabstein. Meistens bleibe ich dort für eine Weile und führe ein stilles Zwiegespräch mit ihr, es fühlt sich dann so an, als würde sie sich mit mir verbinden. Das tröstet mich jedes Mal etwas, denn ich weiß wirklich nicht, was ich sonst noch für sie tun könnte. Ich hoffe es reicht aus, um ihr zu signalisieren, dass sie immer einen Platz in meinem Herzen haben wird
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Deine Mae
Das Meer schimmerte mausgrau, als ich an dem Zipper meines Neoprenanzuges zog. Es war erstaunlich, das Meer wechselte die Farbe und sein Gemüt, wie es ihm beliebte. Beim letzten Mal spiegelte es den blauen Himmel wieder, die Wellen brandeten kraftvoll an den Strand. Aber Wasser hat keine eigene Farbe, es ist immer durchsichtig. Obwohl ich das wusste, machte es mich nervös. Die triste Färbung spiegelte nur zu genau meinen Seelenzustand wider. Dieser Ort war mir so vertraut, ich wusste nicht, wie oft ich in meinem Leben schon hier gewesen war. Und doch verunsicherte mich die wogende See. Die Erinnerungen vom Maifeiertag holten mich ein und verursachten ein beklemmendes Gefühl in meiner Brust und in der Magengegend. Ich versuchte nicht an einen neuen möglichen Unfall zu denken. Allein die Vorstellung daran war unerträglich. Noch einen Menschen zu verlieren, würde ich nicht überstehen. Ruckartig schüttelte ichden Kopf, fest entschlossen Vio zu Ehren das gemeinsame Surfen ohne Panikattacke zu überstehen. Ich schaute weit auf das Meer hinaus, mein Blick folgte den kreischenden Möwen über mir, die auf der Suche nach liegengeblieben Fischbrötchen waren. Ich schloss meine Augen, lauschte dem gleichmäßigen Rauschen der Wellen und meinem Atem, ließ den kalten Sand durch meine Finger rieseln. Als ich die Augen öffnete, fühlte ich mich ruhiger. Abwesend stierte ich erneut zu den Wellen, die auf den flachen Sandstrand ausliefen. Gleichsam erschien mir auch das Leben wie ein stetes Kommen und Gehen, nicht beständig. Junge Menschen waren gesegnet durch die Flut des Lebens, keine nennenswerte Verluste säumten ihren Weg„ sogar die Lebenszeit scheint endlos zur Verfügung zu stehen. Je älter ein Mensch wird, umso mehr zieht sich die Flut zurück, bis zur Ebbe, immer mehr Verluste sind zu beklagen und die Endlichkeit eines jeden menschlichen Lebens zeigt sich immer klarer.
Ich schreckte aus meinen Überlegungen hoch, neben mir krachten zwei Surfboards auf dem harten Sand. Nik streckte mir seine Hand entgegen und zog mich auf die Beine.
»Alles klar?«, fragte er prüfend und legte seinen Kopf schief.
»Mhm«, machte ich unschlüssig und rieb mir den Sand vom Gesäß. »Ich musste gerade an Vio denken.«
Behutsam umfasste Nik meine Schulter küsste mir die Stirn und legte seinen Kopf in den Nacken. »Weißt du was, ich glaube sie schaut uns von oben zu. Vio findet es garantiert super, dass wir an ihrem Geburtstag die Tradition fortsetzen. Oder kannst du dich an einen ihrer Geburtstage erinnern, an dem sie hier
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