Eulenflucht - Kay, E: Eulenflucht
schauten uns unverwandt an, so als sähen wir einander zum ersten Mal. Ich wollte Sam so viel sagen und noch mehr fragen, aber ich fand einfach keine Worte. Die Wahrheit strömte in jede Zelle meines Organismus und berauschte mir die Sinne.
»Mae? Sag doch bitte was.« Sam löste das Tuch von seinem Hals und neigte sich zu mir. Dabei kam er meinem Gesicht ganz nah, als er meine Tränen trocknete. Meine Haut glühte an den Stellen, die er sanft streifte. Ich konnte nun diesen unvergleichlichen Duft erkennen, den er verströmte. Es war die Erinnerung. Sam verströmte das Bukett unserer Liebe. Nie wieder könnte eseine vergleichbare Duftkomposition für mich geben. Sein Blick war durchtränkt von so viel Verletzlichkeit und Verunsicherung, selbst seine Gesichtszüge erschienen mir weicher.
»Mae, bitte sage mir, was ich tun soll«, flehte er. »Bitte lass mich an deinen Gedanken teilhaben. Rede mit mir.«
Ich starrte auf seine Hände, die meine bedeckten. »Ich habe es gesehen«, flüsterte ich.
Sams Finger schoben sich unter mein Kinn und hoben es an, bis ich ihm in die Augen blickte. »Was hast du gesehen?«
»Ich war wieder in meinem Traum, Sam. Und ich habe dich gesehen.« Mit angehaltenem Atem betrachtete ich sein Gesicht, verglich es noch einmal mit dem Jungen, den ich gesehen hatte – die geschwungenen vollen Lippen, seine hohen Wangenknochen, die feine, fast aristokratisch anmutende Nase und seine schillernden grünen Augen, die durch lange dunkle Wimpern umrahmt wurden.
»Endlich weiß ich, warum ich so fühle, wie ich fühle. Endlich weiß ich, warum ich mich nicht vollständig fühle, wenn du nicht in meiner Nähe bist«, ich atmete hörbar aus. »Auch …«, begann ich und suchte nach den passenden Worten, »… . dieses Gefühl endlich angekommen zu sein, das gefunden zu haben, wovon ich die ganze Zeit nicht wusste, dass ich es suchte. Es ist nun alles erklärbar. Ich war Elisabeth. Und ich bin gestorben.«
In einem Hollywood-Film würden jetzt Fanfaren erklingen und das Liebespaar sich leidenschaftlich küssen. In der Realität aber schaute Sam mich nur an, als ich ihn mit der Wahrheit konfrontierte.
»Und wie kommst zu dieser Erkenntnis?«
Ich rieb mir konfus über die Stirn. »Na ja, ich träume diesen Traum, in dem es um eine Elisabeth geht, schon mein ganzes Leben. Er endet immer gleich. Dann tauchst du plötzlich in Neuburg auf, merkwürdige Dinge passieren. Du rufst nach mir und benutzt den Namen Elisabeth. Danach streitest du alles ab und tust so, als ob ich unzurechnungsfähig wäre.« Ich schnaubte und schüttelte den Kopf. »Mein Gefühl hat mir schon die ganze Zeit gesagt, dass du mir etwas verheimlichst. Und gerade die Sache mit der Geige …« Ich schaute zur Bar. Dort lag die Violine immer noch zerbrochen am Boden. »Ich kenne diese Melodie eigentlichgar nicht, geschweige denn, dass ich Geige spielen kann. Aber Elisabeth scheint es gekonnt zu haben.«
Sam sah zur Seite. Trotzdem konnte ich sehen, dass in seinem Blick Angst und Verzweiflung flackerten, als er mich mit leiser, heiserer Stimme fragte: »Und was… denkst du über mich?«
»Ich denke … ich denke, dass du und Elisabeth, also du und ich ein Liebespaar waren.« Ich hielt inne. »Vielleicht haben wir eine zweite Chance bekommen.« Die Worte, die aus meinem Mund sprudelten, hörten sich absolut schräg an, doch gleichzeitig wusste ich, dass sie der Wahrheit entsprachen.
Ruckartig sprang Sam auf und ging zum Rand des Schwimmbeckens. Dort blieb er starr stehen, griff mit beiden Händen in sein Haar und fuhr herum. Seine Lippen zuckten, trotz des kalten Ausdrucks in seinen Augen. »Und welche Theorie hast du dafür, dass vor dir kein alter Mann steht?«, fragte er nach einer Weile, mit unüberhörbarer Überwindung, die ihn diese Frage kostete.
Ich biss mir auf die Unterlippe und wich seinem Blick aus.
»Mae, wie lautet deine Theorie?«, wiederholte er eindringlich seine Frage. Gespenstische Stille breitete sich um uns aus. Mein Herzschlag stolperte. Sam stand immer noch am Rand des Pools, seine Brust hob und senkte sich nun immer heftiger. Auch in mir bebte es, das Zittern meiner Hände geriet außer Kontrolle.
»Sag mir, was du wirklich denkst«, forderte er mit fester Stimme und ballte die Fäuste. »Was denkst du über mich?«
Von dem Nachtwesen, in dessen Gestalt er sich mir im Traum offenbart hatte, waren keine Anzeichen an ihm erkennbar. Vor mir stand ein Junge. Ein zugegebenermaßen außergewöhnlich schöner
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