Euro Psycho
regungslos liegen bleibt. Und nicht mehr aufsteht.
Der Hüter ihres Kastens hat sich unerlaubt entfernt, der Ball streift den Kopf ihres jungen griechischen Innenverteidigers Kyriakos Papadopoulos und prallt vom Tor weg. In meine Richtung. Ihre Abwehr ist völlig ungeordnet, ihr Keeper ist verletzt und liegt, alle viere von sich gestreckt, auf dem grünen portugiesischen Rasen. Der Ball rollt mir vor die Füße. Das Tor ist mir auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.
Aber Scheiße. Als ich den Ball stoppe und mich in Position stelle, um ihn ins Netz zu dreschen und den toten Punkt an diesem Abend internationalen Spitzensports zu überwinden, wird mir klar, was mit mir los ist. Verstehe ich, warum ich so blockiert bin, warum ich am größten Abend meines bisherigen Fußballerlebens nicht ganz Kev selbst bin.
Weil ich – ausgerechnet ich – an mir zweifle. Zweifle, ob ich gut genug bin, um dreimal die Champions League zu gewinnen. Vor mir liegt der Ball, ich muss ihn nur noch in die Maschen hauen.
Bilder von Gerd Müller gehen mir durch den Kopf. Er würde den Ball sogar mit seinem Hals verwandeln, mit der Kniekehle oder mit dem kleinen Hautstück, das die Vorhaut mit dem Rest des Schwanzes verbindet. Ja, selbst damit. Und Cruyff und di Stéfano würden ihn ebenfalls verwandeln. Würden den Ball in den Kasten schieben, ohne darüber nachzudenken. Doch bin ich einer von ihnen? Ich weiß nicht. Meine Selbstzweifel lähmen mich.
Ja, so was ist mir noch nie passiert.
Vielleicht liegt es an Sas. Ist es ihre Schuld? Hockt sie auf dem Furzkissen meines Egos? Keine Ahnung. Ich muss es versuchen. Ich hole mit dem Fuß zum Schuss aus, doch der Ball ist nicht mehr da. Ein Straßenräuber des Fußballs, in Gestalt ihrer Nummer elf, Alexander Baumjohann, hat ihn mir vom Zeh gespitzelt. Er schiebt ihn in Richtung unserer Hälfte, zu Jurado an der Mittellinie. Wir kommen ins Schwimmen, sind in Unterzahl, einige Spieler sind nicht auf ihrer Position. Schalke fährt seinen Konter.
Ich stehe einfach nur da, wie gelähmt am Rand ihres Strafraums.
Was habe ich getan? Ich weiß nicht mehr, was der Unterschied zwischen meinen Augenbrauen und einem Schuhanzieher ist.
Jurado passt zu ihrem peruanischen Mittelfeldspieler Jefferson Farfán, und der wieder zurück. Sie lassen unseren Innenverteidiger Eyodem stehen und laufen auf Baki Ozan zu, der mit vollem Tempo auf Jurado zukommt, worauf dieser den Ball quer nach links zu Raúl spielt. Der erwischt ihn mit dem Spann und drischt ihn hoch oben ins Netz. Unser Torwart hat das Nachsehen. Die Schalker Spieler stürzen sich auf Raúl und reiben sich jubelnd an seinem Körper, während er auf den Rasen fällt, wo sie sich über ihn hermachen wie eine Truppe lüsterner, avantgardistischer Akrobaten.
Sie liegen mit einem Treffer vorn. Eigentlich sollten wir das.
Meine Schuld. Keine Frage.
In meinem Gehirn passieren mehrere seltsame Dinge gleichzeitig, in meinem Kopf brodelt ein ranziges Süppchen: ein Gebräu aus Misserfolg und Selbsthass, aus Scheidung und der Vorstellung, dass ich nicht der bin, für den ich mich gehalten habe. Ich schaue zur Bank hinüber, in der Hoffnung auf Beistand. Fehlanzeige. Unser Trainer Hakhi Bahta ist, die Hände vorm Gesicht, auf die Knie gesunken, sein über den Schädel gekämmtes Haar fällt wie Seegras über seinen Eierkopf. Meine Mannschaftskameraden haben sich abgewendet.
Was hab ich bloß getan?
Und wer sitzt da, in der ersten Reihe hinter unserer Bank? Ich kenne das Gesicht. Jedenfalls das Kinn. Ein unbarmherziges und mürrisches Kinn.
Ich habe es schon mal gesehen. Aber wo, wo nur?
Genau. Beim Song Contest. Es gehört diesem Wichser. Sein Gesicht, das hinter einer riesigen Sonnenbrille verborgen ist, lässt sich auf die Entfernung nicht ausmachen. Dann steht der Wichser auf, und es scheint, als würde er mir zunicken. Lächelnd schiebt er sich durch die Sitzreihe Richtung Ausgang.
Dreifachnaht
Niedergeschlagen trotte ich in den hinteren Teil des Flugzeugs, ziehe mir meine Wollmütze über den Kopf, schließe die Augen und versuche zu vergessen, was passiert ist. Aber das ist gar nicht passiert, oder? Ich hab die Flatter gekriegt. Das freie Tor verfehlt.
Nein, ich habe es nicht mal verfehlt, ich habe mich geweigert zu schießen. Habe vor dem letzten Hindernis gescheut, wie ein launisches Dressurpferd, das einen Eimer Pinot Grigio gesoffen hat. Es tut weh, wenn man versagt hat. Mein Stolz liegt in Scherben auf dem Boden. Da merke ich, wie sich
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