Europa nach dem Fall
»Türkischen Bunds«, einer politischen Aktivistengruppe in Berlin, hat betont, dass ein gewisses Maß an Autorität aufseiten der Schule und ihrer Lehrer absolut notwendig sei. In England schickten einmal muslimische Eltern ihre Kinder in jüdische Schulen, weil die Disziplin dort angeblich strenger war.
Die Lage in der Pariser Banlieue ist kaum besser. Die französischen Behörden machten in den letzten zehn Jahren besondere Anstrengungen, um die Schulbildung in der Banlieue zu verbessern. Es gibt ein Programm namens »Zweite Chance« für diejenigen, die in einem späteren Alter noch etwas aufzuholen versuchen, und es gibt bei den Schulen eine Einteilung nach ZEP ( zone d’éducation prioritaire ) und ZUS ( zone urbaine sensible ), wo es Programme für die Verhütung von Gewalt gibt. Doch die Ergebnisse sind nicht so beeindruckend. Die Zahl der Schulabbrecher ist um etliches höher als anderswo, die Leistungen vieler Schüler sind schwach.
Was könnte die Lösung sein? Die Betreffenden auf die Fußballplätze schicken? Vielleicht brauchen wir einen Baden Powell, der eine neue Pfadfinderbewegung ins Leben ruft; doch wenn er auftauchen sollte, wird er wahrscheinlich ein Islamist sein. Zugeständnisse müssen erwogen werden. Wie sollte der Lehrplan an staatlichen Schulen aussehen? Aus den Einwanderergemeinschaften sind Fragen aufgetaucht, ob holländische Kinder muslimischer Herkunft überhaupt so viel über Rembrandt beigebracht bekommen sollten, der schließlich nicht zu ihrer Überlieferung gehört. Sollten junge Muslime in Italien die Renaissance studieren, alle möglichen Gemälde von Heiligen und Madonnen einer anderen Religion schätzen lernen oder Dante lesen, der üble Dinge über den Propheten Mohammed schrieb?
Goethe schrieb im West-Östlichen Diwan voller Achtung über die gemeinsamen Züge von Orient und Okzident, aber er gehört noch nicht zum türkischen Kulturerbe (es gab 2010 eine ausnehmend dämliche Debatte in Deutschland, ob Goethe ein Bewunderer oder Kritiker des Islam gewesen ist). Warum sollte andererseits Kindern marokkanischer Herkunft in den Niederlanden die Geschichte des Osmanischen Reichs gelehrt werden, was ihnen wenig sagt? Es wird nicht einfach sein, gemeinsame Nenner zu finden.
Ein Referent an der London School of Economics, Ahmed Iftikar, der sich Gedanken machte über die schlechten Abschlüsse von Kindern aus muslimischen Familien an britischen Schulen, gab zum Teil dem Umstand die Schuld, dass sie zu viel Zeit damit verbrachten, in den Moscheen den Koran auswendig zu lernen, und daher wenig oder keine Zeit für die Hausaufgaben hatten. Die Kinder konnten sich außerdem nicht mit den nicht-muslimischen Lehrern identifizieren. Er sagte, es bräuchte speziell muslimische Schulen, um die Lage zu verbessern. Wird sich die Lage mit der Zeit zum Guten wenden? Forschungen in Deutschland zeigen an, dass die zweite Schülergeneration aus muslimischen Familien tatsächlich schlechter abschneidet als die vorige Generation. Doch wie sähe die religiös-politische Ausrichtung separater muslimischer Schulen aus? Würden sie nicht die Spaltung in der Gesellschaft vertiefen? Eine Verbesserung in der Erziehung junger Menschen muslimischer Herkunft wird ihre Probleme nicht lösen, wenn sie nach dem Schulabgang keine Stellen finden.
Schlichtung schließt allerdings nicht mit ein, das muslimische religiöse Recht und die Gepflogenheiten zu akzeptieren, die für Nicht-Muslime nicht hinnehmbar sind, wie etwa die Ablehnung der Gleichheit der Geschlechter. Vor diesem Hintergrund könnten sich Spannungen und Konflikte anbahnen. Toleranz gegenüber Minderheiten ist in den muslimischen Gesellschaften der jüngeren Geschichte kein kennzeichnendes Merkmal gewesen. Den Armeniern erging es übel in der Türkei, in Ägypten sind die Kopten arm dran, im Iran die Bahá’i, und sogar die Schiiten oder die Ahmadiyya und Ismailia in Pakistan wurden, obwohl sie Muslime sind, als Sekten von der sunnitischen Mehrheit verfolgt. Der Status von Christen in Indonesien, einem der tolerantesten muslimischen Länder, ist immer noch problematisch, und in Malaysia sind die Chinesen zu Bürgern zweiter Klasse degradiert worden. Christliche Araber sind massenweise aus dem Irak und Palästina und jüngst auch aus Ägypten geflohen. Wenn sich dieser Trend im Lauf der kommenden Jahrzehnte nicht abschwächt, werden die Aussichten auf eine friedliche Koexistenz in Europa nicht so rosig sein.
III. AUSBLICKE
Europa 2020, Europa
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