Europa nach dem Fall
missachtend, ignorant, rücksichtslos und aggressiv. Das war nicht die Lingua franca der allgemeinen Öffentlichkeit. Ein amerikanischer Freund teilte mir nach einem langen Aufenthalt in London mit, dass Dutzende von Nachbarn (aber auch völlig Fremde) ihm gesagt hätten, dass New York wunderbar sei, eine viel schönere Stadt als London; mein Freund hatte sein Heim allerdings im East End von London aufgeschlagen, nicht in Hampstead oder Chelsea.
Dieser Austausch von Höflichkeiten war nicht ganz einseitig, denn die europäischen Eliten wurden in Amerika oft als dekadent und defätistisch erachtet, die Arbeiter als faul, britische Diplomaten und Politiker als oberflächlich und schwach, ihre französischen Pendants als doppelzüngig und unzuverlässig. Positivere Einstellungen herrschten unter der Intelligenzija der osteuropäischen Länder vor, die der sowjetischen Herrschaft ausgesetzt gewesen war.
Doch bei alldem schien es zweifelhaft, dass der Antiamerikanismus, entweder in ungehobelter oder subtilerer Form, als Hauptpfeiler einer sich herausbildenden europäischen Ideologie dienen könnte. Denn auch wenn Europäer nicht besonders viel von Amerika hielten (um es milde auszudrücken), so hielten sie auch voneinander nicht viel. Nordeuropäer sagten, dass sie wenig mit den Italienern gemeinsam hätten (und die Norditaliener hegten ähnliche Gefühle hinsichtlich ihrer Landsleute im Süden). Die Deutschen wurden respektiert, aber gewiss nicht geliebt. Die Franzosen wurden verdächtigt, nur ihre eigenen nationalen Interessen zu verfolgen und sich um ein vereintes Europa nur in dem Maß zu kümmern, wie sie es dominieren konnten. Und was die Briten betraf, so wurden sie für überhaupt keine guten Europäer gehalten. Sie hätten nur ein begrenztes Interesse an einer Europäischen Union und würden versuchen, die Europäer so lange wie möglich auf Armeslänge entfernt zu halten.
Der Antagonismus gegenüber Amerika wurzelte zu einem erheblichen Teil in der Angst vor seiner Macht. Starke Mächte, vor allem Supermächte, waren in der Weltgeschichte nie beliebt. Ihre schiere Existenz hat, gelinde gesagt, immer zu Befürchtungen geführt. Vor vielen Jahren kommentierte Reinhold Niebuhr dies mit folgenden Worten: »Hass wird durch Neid und Angst verstärkt, und Macht bringt beides hervor.« Die Angst ist gerechtfertigt, weil mächtige Individuen und sogar Nationen, wenn sie wohlwollende Absichten bekunden, nicht so großzügig sind, wie ihre Absichten vermuten lassen.
Wie bei allen Verallgemeinerungen trifft das nicht immer zu. Als Amerika unter Schwächeanfällen litt, trug das nicht notwendigerweise zu seiner Beliebtheit bei. Als die Türkei auf Distanz zu Amerika ging und bei zahlreichen Gelegenheiten sogar feindselig wurde, geschah das genau deswegen, weil die Türken keine Angst mehr vor Amerika hatten. Sie hätten es nie gewagt, in der Nachkriegszeit die Sowjetunion zu provozieren, eben weil sie sowjetische und russische Drohungen fürchteten.
Mit der Wahl von Barack Obama keimte in Europa und auch in einigen Kreisen in Amerika die Hoffnung auf, dass sich in den europäischen Einstellungen zu Amerika das Blatt gewendet hatte. Madeleine Albright, eine frühere Außenministerin, war eine von mehreren Kommentatoren, die argumentierten, dass die Verschlechterung allein auf das Konto der zweiten Amtszeit von Bush junior ging, und es trifft zu, dass der Amtsstil von Bush und seinen Repräsentanten in Europa ganz und gar nicht gutgeheißen wurde. Viele europäische Politiker hatten geglaubt, dass Amerika, ein aus Tradition gewalttätiger Staat, im Kampf gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001 überreagiert habe, dass der zweite Irakkrieg (und möglicherweise auch der erste) unnötig und schädlich gewesen sei, dass Europa nicht am Hindukusch verteidigt werde und dass allgemein gesprochen die amerikanischen politischen Initiativen eng mit europäischen Interessen koordiniert werden sollten, da die europäische Erfahrung in der Handhabung von auswärtigen Angelegenheiten den amerikanischen »Cowboy-Eskapaden« weit überlegen sei.
Während die Europäer zwar der Ansicht waren, Obama bewege sich in die richtige Richtung, kam er doch nicht schnell und weit genug voran. Guantánamo wurde nicht während weniger Wochen geschlossen, der amerikanische Rückzug aus dem Irak ging nicht schnell genug und trotz gewisser Versprechungen war ein Ende des Krieges in Afghanistan noch gar nicht abzusehen. Als die Demokraten bei
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