Europa nach dem Fall
den Zwischenwahlen 2010 schwere Verluste erlitten und die Tea Party aufkam, gab es einen Anstieg an Antiamerikanismus in Europa. Die Militanten der Tea Party waren in der europäischen Presse schlecht weggekommen, sie seien meschugge, unverständlich, pervers, durchgeknallt, schwachsinnig, überkandidelt und unehrlich. Einige der milderen Attribute waren noch »verrückt« und »versessen«. Interessanterweise nahmen einige radikale amerikanische Kommentatoren wie Noam Chomsky eine nuanciertere Haltung zu diesem neuen Phänomen und dessen Motiven ein.
Eine solche Reaktion auf die Regierung Obama und ihre Politik als völlig falsch zu erachten, wäre sicherlich übertrieben. Diese Reaktionen enthielten extreme, anarchische und stumpfsinnige Elemente. Doch es wurde zum Beispiel übersehen, dass die Außenpolitik der Tea Party (wenn sie überhaupt klare Konzepte enthielt) eher zu Isolationismus und zu einer Einmauerung Amerikas führen würde als zu einer militanten amerikanischen Außenpolitik. Es wurde gleichfalls ignoriert, dass die Außenpolitik (oder ihr Fehlen) von Teilen der Demokraten die gleiche Wirkung haben würde. Der amerikanische Imperialismus, liberal oder nicht, war nicht beliebt, doch ein Isolationismus war ebenso wenig willkommen. Innenpolitische Entwicklungen verstärkten – auch unter Reagan und Clinton – nicht die Beliebtheit der Vereinigten Staaten. Amerika fand es ausgesprochen schwierig, es Europa recht zu machen.
Was die Verteidigung Europas betraf, hatten die Vereinigten Staaten durch die NATO die größte Last geschultert. Die Verteidigungshaushalte der europäischen Länder hatten nur einen Bruchteil des amerikanischen betragen, und sie waren in der Folge der Wirtschaftskrise noch weiter gekürzt worden. Einem britischen Weißbuch von 2010 zufolge stellten Terrorismus und Computerkriminalität die Hauptbedrohungen des Vereinigten Königreichs dar. Daraufhin wurden 40 Prozent der Panzer und der Artillerie abgeschafft. England hatte nur einen Flugzeugträger, die Ark Royal, von dem Düsenjäger starten könnten. Doch es schien zweifelhaft, ob es diese Düsenjäger überhaupt geben würde. Premierminister Cameron sagte: »Wir haben in der Welt zu hoch gepokert und sollten in der Zukunft keine weiteren Ambitionen haben.« Wer zu hoch pokert, dem droht meist ein Scheitern und, die Rhetorik mal beiseitegelassen, so verschwand denn auch praktisch Englands Fähigkeit, bei Konflikten in fernen Ländern zu intervenieren, auch wenn die militärische Zusammenarbeit mit Frankreich immer enger wurde, wobei diese ebenfalls Einschnitte hinnehmen musste.
Einige erfüllte die drastische Kürzung des Verteidigungshaushalts mit Stolz, weil sie als ein Meilenstein universeller Abrüstung angesehen wurde. Diese Kürzungen ergaben nur unter der Prämisse einen Sinn, dass es in der Welt von morgen keinen Bedarf an militärischer Macht mehr gab. Bedauerlicherweise war das eine falsche Annahme. Die Kürzungen bedeuteten einen geringeren globalen Einfluss Großbritanniens zu einer Zeit, da militärische Macht immer noch zählte. Wenn es noch eines zusätzlichen Beweises bedurfte, wurde er durch die Entwicklungen in Nordafrika zu Beginn des Jahres 2011 geliefert. Als der Bürgerkrieg in Libyen ausbrach, spielten England und Frankreich eine aktive (doch halbherzige) Rolle, als sie zum Schutz der gegen Gaddafi kämpfenden Einheiten eingriffen. Doch Deutschland und Italien wollten nicht intervenieren, und die auf Unterstützung aus der Luft beschränkte britisch-französische Intervention erwies sich als nicht ausreichend, um diesen Bürgerkrieg zu einem raschen Ende zu bringen.
Eine moralische Supermacht?
Der Begriff »zivile Macht« (»moralische Supermacht« kam etwas später) wurde in den frühen 1970er-Jahren in England von etlichen führenden öffentlichen Intellektuellen wie François Duchêne, Andrew Shonfield und Alastair Buchan geprägt, die alle an der Spitze von prestigeträchtigen Denkfabriken, wie zum Beispiel Chatham House, standen oder mit ihnen verbunden waren. Er beruhte auf der Annahme, dass militärische Konflikte immer unwahrscheinlicher werden würden, dass gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit weitaus wichtiger sei und dass die kaum 20 Jahre alte Europäische Union, um mit der Zeit zu gehen und nicht zurückzubleiben, ihre Politik auf diese Einsicht stützen müsste. Das führte in den folgenden Jahren zu Diskussionen darüber, was zivile Macht wirklich bedeutete. Neue Begriffe wie
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