Europa nach dem Fall
München im Jahr 2007 ließ er sich über den entscheidenden Wandel im globalen Machtgleichgewicht und den Niedergang Europas und der Vereinigten Staaten aus. Bei anderer Gelegenheit sagte Putin voraus, dass Russland bis 2020 nicht nur unter den reichsten und mächtigsten Nationen sein würde, sondern auch unter den progressivsten und dynamischsten. Ein Berater Putins erklärte, dass die ganze Welt Russland noch dafür dankbar sein würde, dass es als Gegengewicht zur westlichen Hegemonie handle.
Solche Reden klangen mehr als eine Spur zu zuversichtlich angesichts eines Bruttosozialprodukts, das trotz der riesigen Gewinne nur so groß wie das von Frankreich war, nämlich 2,1 Billiarden Dollar. Die Stimmung wandelte sich nach 2007, wofür es mehrere Gründe gab. Auch Russland litt unter der globalen Finanzkrise – das russische Bruttosozialprodukt nahm um 6 Prozent ab. Der russische Aktienmarkt brach beinahe zusammen. Die politische Elite sah allmählich ein, dass die beinahe völlige Abhängigkeit von Energieexporten gefährlich war. Russland müsste auf den Weltmärkten konkurrenzfähig werden, und dies ließe sich nur mit weitreichenden Strukturreformen durchführen. Putins Machogehabe war auf kurze Sicht eine schlaue Strategie, aber auf lange Sicht würde sie mit ziemlicher Sicherheit auf ihn zurückschlagen.
Des Weiteren dämmerte dem Kreml, dass die Verschiebung des globalen Machtgleichgewichts, worüber Putin ziemlich oft positiv gesprochen hatte, aus russischer Sicht keineswegs ganz so günstig war. Wie würden der Aufstieg Chinas und der Niedergang Europas und der Vereinigten Staaten Russland nützen? Was würde in Afghanistan nach dem Exodus der NATO passieren? Moskau betrachtet Zentralasien als seine Zone »privilegierten Interesses«, wodurch es auch zu einer Zone politischer Verantwortung wird. Islamistische Gruppen würden augenblicklich Zentralasien bedrohen, und Russland würde wieder in einen Konflikt gezogen, dem es unter großen Schwierigkeiten in den 1990er-Jahren entkommen war.
Warum wurden diese Bedrohungen vom Kreml nicht viel früher erkannt? Dieser Blindheit lag die beinahe ausschließliche Beschäftigung und sogar Obsession der russischen Führung mit dem Westen und der NATO zugrunde. Das waren die traditionellen Feinde. Alle anderen Probleme schienen wenig Bedeutung zu haben. Doch im Lauf der Zeit begriff wenigstens ein Teil der russischen politischen Elite diese Trends. Eine neue Entspannung gegenüber dem Westen war notwendig, und diese Strategie zeigte sich in einer Reihe von Zugeständnissen, wenn auch recht bescheidenen – Russland votierte für Sanktionen gegen den Iran, drückte Reue über das Massaker von Katyn aus und lud ein Kontingent von NATO-Soldaten zur jährlichen Siegesparade auf dem Roten Platz ein.
Gerade wegen des relativen Niedergangs in Europa und den Vereinigten Staaten wurde eine russische Annäherung an den Westen attraktiver und in Moskaus Augen vielleicht sogar zwingender. Daher kam der neue versöhnliche Ansatz, der sich im berühmten Dokument des russischen Außenministeriums vom Mai 2010 über die Verbesserung der Beziehungen mit der Außenwelt und insbesondere mit dem Westen niederschlug. Daher kam auch der Ruf nach wirtschaftlichen Reformen, die eine po litische Entspannung einbezogen, denn es war unwahrscheinlich, dass namhafte westliche Investitionen und westliche Technologie Einzug halten würden, wenn nicht einigermaßen Sicherheit herrschte, dass russische Behörden, ob von staatlicher oder polizeilicher Seite, sich nicht in ihr Geschäft einmischten, sich nicht erpresserisch betätigten und dadurch normale Arbeitsabläufe und Transaktionen unmöglich machten.
Der Kreml stand vor einem Dilemma. Die Notwendigkeit von grundlegenden wirtschaftlichen Reformen sahen die meisten ein. Aber sie begriffen auch, dass dafür ein politischer Preis zu zahlen wäre. Es war undenkbar, dass es »Zugeständnisse« geben würde (wie in China vor dem Zweiten Weltkrieg), mit einem Recht für Ausländer und einem anderen für Russen. Doch Putin und die Mehrheit der russischen Politikerschicht, die silowiki , wollten keinen zu hohen politischen Preis – nicht zu viel Demokratie und Freiheit, nicht zu rasch. Eine Demokratie nach westlichem Muster entsprach nicht der russischen Tradition. Das Land brauchte eine starke Hand, was die zahlreichen öffentlichen Meinungsumfragen auch zu bestätigen schienen. Das Ansehen von Putin und auch von Medwedew, der ihm als Präsident
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