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Europa nach dem Fall

Titel: Europa nach dem Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Laqueur
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nachfolgte, war höher als das irgendeines westlichen Staatsmanns, wenn es auch im Abnehmen begriffen war. Es wäre womöglich noch höher gewesen, wenn Russland eine freie Presse, Versammlungsfreiheit, freie politische Parteien, freie Rechtsprechung und andere freie Institutionen hätte – was nicht der Fall ist. Die Mehrheit der Russen wirkte zutiefst konservativ (und apathisch), vielleicht weil das Land zu viele radikale und negative Veränderungen in seiner jüngsten Vergangenheit durchgemacht hatte. Demokraten und Demokratie waren während Jelzins Amtszeit zu Schmähworten geworden, da sie auch die Freiheit einiger an die Schaltstellen platzierter Einzelner, der Oligarchen, umfasste, sich zu bereichern. Demokratie wurde für viele ein Synonym für Kleptokratie.
    Der Glaube an einen besonderen historischen Auftrag Russlands wirkte immer noch stark, wie gleichfalls auch die alte russische Neigung, an Verschwörungstheorien zu glauben – je weiter hergeholt, desto beliebter. Es wurde immer noch weithin geglaubt, dass der Zusammenbruch des Sowjetreichs das größte Unglück des 20. Jahrhunderts sei, dass er zum Großteil vom Westen verursacht worden sei und dass Russland keine anderen vertrauenswürdigen Freunde und Verbündete habe als seine Armee und seine Artillerie.
    Putin und viele seiner Gefolgsleute hatten ihre politische Erziehung im KGB erhalten, bei dem es als unumstößliche Tatsache galt, dass die ganze Außenwelt feindlich oder potenziell feindlich gesinnt war. Und sie glaubten auch, dass Russlands Feinde, wenn die Sicherheitsorgane nicht stark, hart und an der inneren Front omnipräsent wären, das Land unterwandern und seinen Abstieg ins Chaos auslösen würden – oder Schlimmeres. Das beständige Herumreiten Europas und Amerikas auf Menschenrechtsverletzungen und fehlender Demokratie, auch wenn es etwas nachgelassen hat, verstimmte ebenfalls die russische Führung, weil es für sie immer noch die größte Bedrohung dargestellt haben mag. Von China oder von anderen asiatischen und afrikanischen Ländern würden wahrscheinlich keine solchen Ermahnungen kommen. Die Ermahnungen waren mehr als ärgerlich; sie untergruben möglicherweise das Prestige der neu emporgekommenen Schicht in Russland. Die chinesische Politik schwächte Russland in Asien, die westliche Menschenrechtspolitik kratzte die Machtstellung der Kreml-Führung an, und bei all ihrem Patriotismus waren diese Staatsmänner offensichtlich mehr um die Gefahren für ihre Macht besorgt als um die, die ihrem Land drohten.
    Doch solche altbewährten antiwestlichen Haltungen kollidierten mit neuen Entwicklungen innerhalb Russlands und in der Welt. Es war schwierig, gleichzeitig zu behaupten, der Westen sei in einem steilen Niedergang begriffen, aber auch eine tödliche Gefahr. Daher weichte die Haltung ein wenig auf. Der russische Außenminister erklärte, dass die NATO nicht mehr eine Gefahr, nur noch eine Bedrohung darstellte, obwohl der Unterschied zwischen den beiden Auffassungen nicht unmittelbar einleuchtete. Die russischen Behörden bedürften einer gewissen Reform, aber keiner Demokratisierung. Das Land sei nicht reif dafür und würde es wohl nie sein. Diese Reform würde vertikal, von oben nach unten, durchgeführt und vom Staat gesteuert werden. Es wurde argumentiert, dass eine Modernisierung in den meisten Ländern (die angelsächsischen ausgenommen) so vor sich gegangen sei.
    Aufseiten der Rechten in Russland bewunderten einige das chinesische Modell. China hatte schließlich ungeheure wirtschaftliche Fortschritte erzielt und dabei nicht das von der kommunistischen Partei gehaltene Machtmonopol aufgegeben. Sie vergaßen dabei leicht, dass das chinesische Modell kaum auf Russland anwendbar wäre. Wie ein russischer Kommentator betonte, waren die Chinesen seit unvordenklichen Zeiten daran gewöhnt, für sehr wenig Geld hart zu arbeiten.
    Die liberaleren Elemente in Moskau, die eine tiefgreifendere Modernisierung favorisierten, wollten ebenfalls keinen radikalen politischen Wandel, aber sie bestanden auf gewissen Schritten in diese Richtung. Ihnen war klar, dass fortschrittliche Technologie aus dem Westen eingekauft, geborgt oder gestohlen werden konnte, doch nach früheren Erfahrungen war es meist unmöglich gewesen, solche Technologien aufzugreifen und sie zum Laufen zu bringen. Die Art von Modernisierung, die zu Zeiten Andropows, also in der sowjetischen Spätphase, eingesetzt wurde, wäre vielleicht zur Bekämpfung des Rowdytums auf

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