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Schostakowitsch, kurzatmig, zu wenig Stütze; aber vielleicht ist inzwischen der, nun, der Ansatz zu schlaff. Ich, ich hoffe wirklich, das ist nicht Elena.
Er seufzte und erhob sich, lugte durch den Verdunklungsvorhang und nahm wieder Platz. Er konnte noch immer nicht ausmachen, woher der Schrei kam. Er hörte nicht auf. Jetzt glaubte er fest, dass es Elena war. Er stand wieder auf. Der Flügel war voller Ziegelstaub. Er ging ins Bad, auf der Suche nach einem feuchten Tuch, nun, eigentlich, Sie wissen schon, um seine Fassung wiederzugewinnen, weil … – Ich bitte um Entschuldigung, sagte er. Es tut mir wirklich leid, diese, diese, Sie wissen schon.
Er nahm wieder Platz und wienerte jede Taste einzeln blank. In den Straßen von Leningrad schrie Elena Konstantinowskaja in einem fort.
Nun, nun, verkündete er fröhlich. Dem Tod entkommt man einfach nicht. Diese Tasten zum Beispiel, sie sind, wie soll ich sagen, schwarz und weiß, wie ein Leichnam in seinen Kleidern, halb vom Schnee bedeckt. Ich weiß nicht, sollen wir überhaupt … Egal, jetzt sind sie sauber.
Kümmern Sie sich nicht darum! Wir warten, Dimitri Dimitrijewitsch!
Schon gut, schon gut, also weiter. Das ist die richtige Einstellung. Nun, was halten Sie wirklich davon?, fragte er seine Gäste. Denn wir müssen weitermachen, als wäre unser Leid nicht bedeutungslos! Verstehen Sie, was ich sagen will? Denn sonst … Dies ist der erste Satz, und ich, nun, ich fange an.
Und er spielte ein Thema wie ein Feld aus hohen blühenden Gräsern, wo Besinnung und Vorahnung aufeinander losgehen wie brünftige Hirsche. Dann flogen seine Hände vom Flügel auf und die Finger zuckten durch einen Takt Stille, als er eine Pause spielte, so schwarz und eckig wie der Schattenriss eines Bunkers, und dann kam, was in der Version
für Orchester leiser Rührtrommelschlag sein würde, und das Rattenthema hob an.
In diesem kritischen Augenblick hätte es das Motiv einer Geliebten oder Muse sein können – ein leichtes, kokettes Klopfen, als wäre ein gewisser Jemand mit den Initialen E. E. K. gekommen, um ihn für eine Stunde der Lust im Hotel Astoria zu wecken; aber was, wenn es das NKWD war, das aus genüsslichem Sadismus in der gleichen verlockenden Manier klopfte, so dass er lächelnd öffnete, in seiner allerschönsten Unterhose, wo er doch aus dem Fenster hätte springen sollen? Als er diese erste Runde aus den weißen Tasten und den schwarzen Tasten und dem Raum dazwischen herausstreichelte, wandte er alle Schliche seines typischen Sarkasmus an, hinter dem sich am Ende nichts anderes verbarg als ihr Sadismus, so dass ein schöner Ausdruck der Häßlichkeit entstand, ganz ähnlich wie bei »Lady Macbeth«, deren schaurigste und düsterste Passagen immer in Dur gesetzt waren, oder, da wir gerade dabei sind, auf genau dieselbe Weise, wie er für den Rest seines Lebens von Polizeispitzeln als lieben, lieben Freunden sprach, oder wie er das genaue Gegenteil meinte, wenn er das vollendete militärische Genie des Genossen Stalin besang. Wie zart er das Rattenthema anschlug! Und die erste Wiederholung war sogar noch offener, süßer und lieblicher. Aber im nächsten Durchlauf lauerte dissonant ein Holzbläser unter der hohen Süße. Jetzt füllte das Rattenthema sich mit blechernem Leben, schüttelte seine frühere Zögerlichkeit ab, Cellos, Hörner, Pikkoloflöten, Klarinetten, Blechbläser und Xylophon kamen unterwegs zum Ostinato dazu. Und Sie müssen mir glauben, wenn ich Ihnen sage: Obwohl ihm kein Orchester zur Verfügung stand, nur ein verstimmter Flügel mit von Granatsplittern zerkratztem Deckel, spielte er, als wäre alles da; dies war die wahre Uraufführung, obwohl kaum jemand gekommen war, sie zu hören. Und nun versteifte die Rührtrommel das Rattenthema ins Martialische. Die fünfte Wiederholung war wie die erste, nur viel lauter, selbstsicherer. Der Rattenfänger hatte seinen Rhythmus gefunden (und um unseres lieben Lebens willen, von unseren Musikerkarrieren gar nicht zu reden, wollen wir ihn Adolf Hitler nennen, denn sonst würden sie uns, Sie wissen schon). Nun fielen die Marschtrommeln des Orchesters ein, das Rattenthema wurde patriotisch, und in der siebenten Runde war es richtig streng, und die Rührtrommel klang wie eine Klapperschlange. Dann wurde es kindisch
und dumm mit lautem Xylophon, und dann verführerisch impressionistisch und äffte mit unbestimmt an- und abschwellender Lautstärke Debussy nach; aber in seiner zehnten Inkarnation wurde
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