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Europe Central

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Titel: Europe Central Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William T. Vollmann
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sechs Wochen auf Heimaturlaub, damit er nicht schlecht von der 6. Armee dachte. Als er an jenem Abend schlafen ging und die Augen schloss, sah er wieder die strahlend weißen Puschkin-Bände im Bücherregal vor sich und die Sonne beschien Poltawa , und wieder fragte er sich, wo sie die Bücher versteckt hatte, und dann fragte er sich zum ersten Mal, ob sie wohl jemals darin gelesen hatte, und unmittelbar vor dem Einschlafen erspähte er im Türspalt Ernsts trauriges, ängstliches, verdrecktes, kleines Gesicht. Auch jetzt war Ernst wahrscheinlich wieder dreckig, wie alle Männer an der Front. Plötzlich wurde er wach und sprach ein stilles Gebet für das Wohlergehen seiner beiden Söhne. Dann zündete er die Laterne an und beugte sich über die Feindlagekarte (Maßstab 1:300000). Als seine Kolonnen am sechzehnten nach Süden rasten, in einem Versuch, die sowjetische 62. Armee einzukesseln, wurden sie von einem Hinterhalt eingegrabener, getarnter T-34-Panzer in Stücke gerissen. Er schickte die fünf neuen Pionierbataillone in die Schlacht, die der Führer ihm gegeben hatte. Die meisten der Jungs fielen, leider. Am 18.10. nahm seine Infanterie die Straßenbahnlinie ein.
Auf seiner Inspektionsreise hatte er einen seiner Soldaten erspäht, der sich das blau-rote Käppi eines offenbar »in die Etappe versetzten« NKWD -Offiziers um einen Finger wirbeln ließ. In manchen Bezirken waren die Käppis grün, glaubte er. Ihre Gestaltung war seiner Meinung nach protzig. Aus irgendeinem Grund ging ihm Olgas neues Kleid nicht aus dem Kopf. In Cocas Brief hatte es geheißen: Olga scheint gesund zu sein, hat aber Geldprobleme, wie ich vermute. Parisreisen sind für sie gestrichen! Überall steigen die Preise. Du würdest nicht glauben, was Butter kostet. Die einzige gute Nachricht ist, dass Robert für seinen Auftritt bei der antijüdischen Pantomime einen Preis gewonnen hat. Ein wirklich gutes und kluges und eifriges Kind. Hoffentlich steigt ihm der Erfolg nicht zu Kopfe! Eben war Frau Reiting bei mir, in Tränen aufgelöst; offenbar ist ihr Sohn vor Leningrad gefallen. Wie kann ich sie nur trösten? Sie ist immer so gut zu uns gewesen, besonders zu Olga. Ich werde sie in meine Gebete einschließen. Von Friedrich habe ich nichts gehört und mache mir Sorgen. Hat er dir geschrieben? Gestern kam von Ernst ein kurzer Brief; er sagt, er habe dich schon lange nicht mehr gesehen. Links zuckte ihm der Mund ein wenig. Du kannst doch sicher eruieren lassen, ob es ihm gutgeht. Ich bete noch immer für Dich, jeden Tag und jeden Abend. Schneit es bei Euch schon? Ich schicke Dir viele Küsse. Mein Glaube an Dich und an unseren Führer ist ungebrochen. (Den Führer hatte sie, wie er wohl wusste, für die Zensur eingefügt.) Ohne von seiner Anwesenheit Aufhebens zu machen, ließ er an alle Zigaretten und Glückwünsche ausgeben. Sein Tagesbefehl führte aus, dass nun, da wir die Straßenbahn in der Hand hatten, alles leichter vorangehen würde.
    Am 21.10. führte er die 79. Infanterie gegen die Fabriken »Roter Oktober« und »Barrikaden« in die Schlacht. Eigentlich hätte er lieber General Dumitrescu von der rumänischen 3. Armee unterstützen sollen, aber unser Führer hatte noch nicht auf sein Ersuchen um Verstärkung reagiert. Er musste die 3. Rumänische vorerst vernachlässigen, da die Schlacht um »Roter Oktober« seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Besonders weil seine Jungs in ungewöhnlich hoher Zahl fielen – wie natürlich auch die Roten. Die Ordonnanz servierte ihm frische weiße Handschuhe auf dem Silbertablett. Major Schmidt schaute vorbei, nur um zu sagen: Wir glauben an Sie, Herr Generalleutnant. – Sie näherten sich nun dem Augenblick in jeder Schlacht, die auf der Kippe steht, wenn der Wille sowohl der Angreifer als auch der Verteidiger fast
gebrochen ist, so dass ein einziger entschlossener Einsatz einer der beiden Seiten genügt, die Sache zu entscheiden. Und nun vermisste er die Truppen, die der Führer in den Kaukasus verlegt hatte, ganz besonders. Aber Generalleutnant Paulus war kein Mann, der schnell aufgab. Er öffnete sein silbernes Zigarettenetui, er zündete ein Streichholz an, er versuchte, alles gründlich zu durchdenken, und ließ Frontbreite und Aufstellung nie aus den Augen. Es war wirklich recht kompliziert; beinahe hätte er Schmidt um Hilfe gebeten. Den Bezirk Dscherschinski hatten wir im Wesentlichen eingenommen; die »Roter-Oktober«-Werke konnten sich nicht länger halten; an jenem Tag befahl

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